Ein einziger Tag. Kjersti Scheen
dass Fredrik und die anderen sich das nur ausgedacht hätten, um die Mädchen dazu zu bringen, auf der Insel zu übernachten.
Aber die Motorpanne schien echt zu sein.
Immerhin waren sie kurz vorm Verhungern, jedenfalls kam es ihm so vor. Außer Kartoffelchips und Erdnüssen hatten sie nichts dabeigehabt, weil ursprünglich nur geplant gewesen war, ein paar Stunden durch die Gegend zu schippern und sich die Johannisfeuer auf den umliegenden Inseln in der Nähe der Stadt anzugucken. Bis Fredrik plötzlich auf die Idee gekommen war, weiter raus zu fahren: nach Håøya. Wo doch der Wind schon mal so günstig war ...
Als sie gestern Abend gestartet waren, hatten sie nämlich guten Wind gehabt. Wind und Sonne. Martin hatte auf dem schwimmenden Anlegesteg gesessen und Fredrik und Nils dabei zugeschaut, wie sie das Boot startklar machten, während sie noch auf die beiden Mädchen und Bille warteten. Sie hatten sogar ordentlich Wind gehabt, der Steg war auf und ab geschwankt, alles war in Bewegung gewesen, eine unruhige Welt aus Lichtern und Geräuschen: das Glitzern auf dem Wasser, das Knarren der Boote, die auf und ab geschaukelt und hin und her gezerrt wurden, die knirschenden Fender der dicht nebeneinander vertäuten Boote. Der Mastenwald wogte, ihm war allein vom Hinsehen schon ganz schwindelig geworden, und bei dem Gedanken mit dem Boot rauszufahren war ihm gar nicht wohl gewesen. Er hasste schnelles Segeln, worauf es bei diesem Wind garantiert hinauslaufen würde. Das schräge Deck, das krängende Boot, der schwingende Baum, die Angst zu versagen, wenn Fredrik kommandierte.
Martin wäre niemals auf die Idee gekommen mitzufahren, wenn sie ihn nicht überrumpelt hätten. Indem sie Susanne bei ihm hatten anrufen lassen.
Seine Eltern, Hanne und er hatten gerade beim Abendessen gesessen, als das Telefon klingelte. Hanne hatte abgenommen. »Für dich«, hatte sie gesagt, als sie wieder in die Küche kam. »Ein Mädchen.«
Alle drei hatten sie ihn angestarrt. Martin bekam nie Anrufe von Mädchen.
Er war knallrot geworden und hatte beim Rausgehen irgendetwas Unverständliches vor sich hin gemurmelt. Und es war noch schlimmer geworden, als ihm klar wurde, dass Susanne am Apparat war. Er bekam kaum mit, was sie sagte, weil sein Herz so laut pochte und der Pulsschlag in seinen Ohren rauschte.
»... wird bestimmt genial! Es ist doch Johannis. Und Fredrik hat so ein geiles Boot.«
»Ja«, hatte er gesagt ohne zu wissen, worauf er eigentlich antwortete.
»Er hat gesagt ... Warte mal kurz!« Susanne hatte den Hörer beiseite gelegt und er hörte Gemurmel im Hintergrund. Dann war sie wieder am Apparat gewesen und hatte gesagt, dass Martin Chips oder so was in der Art mitbringen und gegen fünf Uhr auf dem Bootsanleger beim Frognerstranda Kro sein sollte.
Er hätte merken müssen, dass das eine Falle war.
Auch wenn es Susanne war, die angerufen hatte.
Aber vielleicht hatte sie gar nichts davon gewusst.
Vielleicht war es gar nicht geplant gewesen und hatte sich ganz zufällig so entwickelt.
Vielleicht. Aber aus welchem Grund hätten sie ihn sonst mitnehmen sollen?
Weil Fredrik mein Vetter ist, dachte Martin. Fredrik ist mein Vetter und der Schlimmste von allen.
Aber das wussten weder seine Mutter noch sein Vater.
Das konnte er ihnen doch nicht ohne weiteres erzählen.
»Das ist aber wirklich nett von Fredrik«, hatte seine Mutter gesagt und ihn im gleichen Atemzug ermahnt einen Pullover mitzunehmen, weil es draußen auf dem Wasser nach Sonnenuntergang ziemlich abkühlen könne, selbst wenn es sonst schon sehr warm war.
Er hätte es wissen müssen. Er hätte zu Hause bleiben sollen. Aber da war immer wieder dieses Fünkchen Hoffnung in seinem tiefsten Innern. Die Hoffnung, dass es irgendwann einmal besser werden würde. Das hoffte er nun schon seit Jahren. Wenn ich nur erst älter bin. Wenn wir nur erst in die Fünfte oder Sechste kommen. Wenn nur erst die Grundschule rum ist und wir in die Mittelstufe kommen ... So hatte er gedacht. Aber nichts wurde besser, nichts änderte sich. Sie hackten weiter auf ihm herum und machten sich lustig über ihn, sie schubsten ihn und stellten ihm ein Bein, nahmen ihm den Rucksack weg, um den Inhalt aus dem Fenster zu kippen. Er war und blieb derjenige, den sie aus Gründen, die er nicht nachvollziehen konnte, verachteten und hassten.
Denn das taten sie doch, oder?
Warum sonst sollten sie sich ihm gegenüber so benehmen?
Er hatte viel Zeit darauf verwendet, herauszufinden, was die anderen derart reizte ihn so zu behandeln. Aber er war der Lösung keinen Schritt näher gekommen.
Er hatte ihnen nie etwas getan.
Er trug noch nicht einmal eine Brille. In den Büchern wurden immer die Brillenträger und diejenigen, die einen komischen Dialekt sprachen, gemobbt. Oder die Dicken. Wenn überhaupt, war er zu dünn. Aber deswegen hatte ihn noch nie jemand aufgezogen. Es war ein bisschen so, als ob sie sich einfach daran gewöhnt hätten, mit Martin umspringen zu können, wie sie wollten.
Wenn er sie sagte, meinte er zuallererst Fredrik und mit ihm seine Anhängerschaft. Fredrik schaffte es immer wieder, Leute um sich zu scharen und dazu zu bringen, nach seiner Pfeife zu tanzen. Er war groß und kräftig gebaut, ein echter Sportfreak, außerdem waren seine Eltern ziemlich wohlhabend. Fredrik spielte Tennis und Fredrik segelte, er hatte sogar schon Pokale bei Regatten gewonnen. Es gab also genügend Gründe, Fredrik zu bewundern.
Dass er, nebenbei gesagt, ein echter Scheißkerl war, damit fanden die meisten sich ab. Bille fand sich damit ab, Nils fand sich damit ab, die Mädchen, alle fanden sie sich damit ab, von Fredrik schikaniert zu werden. Er kaufte sich sozusagen frei mit seinem Segelboot und Megafeten in dem großen Haus am Hang, mit Cola und Bier und Snacks und Videofilmen.
»Fredrik kann einem wirklich Leid tun«, sagte Martins Mutter häufig. »Seine Eltern haben so wenig Zeit für ihn. Aber es hilft ja nichts, Cathrine darauf anzusprechen.«
Cathrine war die Schwester von Martins Mutter. Sie besaß eine Boutique in einer Seitenstraße vom Frognerveien. So einen kleinen Laden mit teuren Designerklamotten.
Onkel Johan war Offizier bei der Luftwaffe. Sie waren bestimmt hundertmal umgezogen, bevor sie sich endgültig in Åsen niederließen. Martin kannte seinen Onkel kaum, weil er nur selten zu Hause war. Und wenn er dann einmal da war, saß er mit einem Becher Kaffee und einem seiner dünnen, starken Zigarillos im Wohnzimmer und wollte seine Ruhe haben.
»Macht, dass ihr rauskommt, Jungs«, sagte er jedes Mal.
»Ich brauche meine Ruhe!«
Früher, als Martin noch kleiner war, fand er es klasse einen Onkel zu haben, der so spannend vom Fliegen erzählen konnte. An Fredriks neuntem Geburtstag durften die Geburtstagsgäste statt Donald Duck und dem Dschungelbuch einen Werbefilm über den F16-Bomber anschauen. Sie hatten auf den Fingern gepfiffen und vor Begeisterung geschrien.
»Hat denn wirklich keiner mehr was Essbares dabei?«
Vibeke war aufgestanden, jetzt zog sie den Kopf ein und verschwand unter Deck. Die anderen hörten ein paar Schranktüren knallen.
»Gib’s auf, da is nix!«, rief Fredrik ihr nach. »Ein bisschen später im Jahr hättest du vielleicht ’ne Chance gehabt. Aber bis jetzt sind wir noch nicht richtig mit dem Boot unterwegs gewesen.«
»Ha!«, tönte Vibekes triumphierender Ruf nach oben. Gleich darauf tauchte sie mit einer Konserve in der Hand auf. »Ananas!«
Sie tauchte wieder in die Kajüte ab, die anderen hörten sie Schubladen aufziehen und mit Besteck klappern. Dann kam sie mit der offenen Dose und einer Gabel zurück.
Als die Dose bei Martin ankam, stach er die Gabel hinein und fischte einen Ananasring heraus. Der klebrige Saft tropfte ihm aufs T-Shirt, das noch von der letzten Nacht schmuddelig war. Er wischte sich mit der Hand übers Kinn. Die Ananas schmeckte lauwarm und sehr süß. Er schluckte. »Vielleicht ist es ja der Ölfilter. Oder die Lenzpumpe.«
Fredrik dachte