Ein einziger Tag. Kjersti Scheen

Ein einziger Tag - Kjersti Scheen


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sahen einen Motorkreuzer auf sich zurasen. »Warum lassen wir uns nicht einfach abschleppen?«, fragte Nils. Eine Sekunde später war er auf den Beinen und fuchtelte wild mit den Armen. Der Mann hinter dem Steuer des Motorkreuzers winkte. »Idiot!«, schrie Nils. »Glaubt der vielleicht, dass wir hier zum Vergnügen auf dem Wasser rumtreiben und ihm zuwinken? Hast du was zum Krachmachen?«

      »Die Hupe«, sagte Fredrik und zeigte zur Backbordwand. Nils streckte den Arm aus und drückte auf die Hupe, worauf ein lautes Heulen ertönte. Der Mann auf dem Motorkreuzer antwortete mit einem wütenden Hupen, beschleunigte und verschwand in nördlicher Richtung.

      »So ein Trottel!«, schimpfte Susanne. »Der muss doch gesehen haben, dass wir Hilfe brauchen. Es treibt doch niemand aus Spaß an der Freude auf dem Meer herum! Hast du keine Leuchtraketen?«

      Fredrik zuckte mit den Schultern. »Die sind bei dem Licht nicht zu erkennen. Und außerdem sind wir nicht direkt in Lebensgefahr!«

      Martin würgte den Ananassaft hinunter. Jetzt war ihm noch schlechter als vorher. Konnte man bei so glatter und unbewegter See seekrank werden?

      Wahrscheinlich lag es daran, dass er Hunger hatte.

      Und übermüdet war.

      Und genervt, weil er immer gleich so angespannt und panisch wurde.

      Hatten sie etwa vergessen, was heute Nacht passiert war?

      Wie lange würde es dauern, bis es wieder von vorne losging?

      Ihm fiel auf, dass er die Zähne zusammenbiss und hektisch atmete, obwohl es im Moment ganz ruhig war. Er war ein Schisshase. Scheißegal.

      »Der kommt schon zurecht«, sagte sein Vater, womit er Martin meinte.

      Der kommt schon zurecht.

      Aber er kam nicht zurecht.

      Er schaffte es nicht! Er konnte nicht mehr. Auf einem Segelboot, anderthalb Kilometer östlich von Hurum und drei Kilometer nördlich von Håøya, wurde Martin klar, dass er am Ende seiner Kräfte war. Es musste endlich Schluss damit sein. Egal wie.

      Nils hatte einen Tampen entdeckt und spielte damit herum. »Guckt mal, ein Kreuzknoten«, sagte er und hielt den Knoten hoch, damit die anderen ihn sehen konnten.

      »Das ist kein Kreuzknoten«, sagte Fredrik.

      »Und was soll das sonst sein?«

      »Keine Ahnung, ein Altweiberknoten vielleicht.«

      Fredrik lehnte sich zu Nils rüber und nahm ihm den Tampen aus der Hand. Er zog daran und wickelte mehr Tau von der Taurolle unter der Bank ab. Dann saß er konzentriert über den Knoten gebeugt und lachte leise vor sich hin. Die Mädchen beobachteten ihn jetzt beide und Bille hatte sogar die Ananasdose aus der Hand gestellt.

      »Da«, sagte Fredrik und warf Martin das Tauende zu.

      »Eine Schlinge. Jetzt kannst du dich aufhängen!«

      2

      Skogens Grundschule lag am Hang wie ein Schloss. Die Schule war ziemlich alt; ein Jahr vor Martins Einschulung war hundertjähriges Jubiläum gefeiert worden. Seine Mutter und Tante Cathrine waren auch schon auf dieser Schule gewesen. Früher, wenn er mit seinem Vater oder seiner Mutter zur Straßenbahnhaltestelle gegangen war, war ihm der Schulhof immer so verlockend vorgekommen. Nachmittags nach Schulschluss spielten die größeren Kinder dort Ball oder fuhren Achten auf ihren Rädern, immer einen Fuß am Boden.

      Am Ende hatte er es kaum erwarten können, endlich in die Schule zu kommen. Endlich größer zu werden. Freunde zu haben.

      In der Straße, in der er wohnte, gab es niemanden in seinem Alter. Ihr Haus war der einzige Neubau in einer Straße, wo sonst nur herrschaftliche Villen in großen Gärten standen, in denen alte Leute ohne Kinder lebten.

      Sein Vetter Fredrik hatte damals noch in Bodø gewohnt, weil der Onkel in einem Ausbildungslager bei Bodin gearbeitet hatte. Sie waren erst im Sommer vor der Einschulung nach Åsen gezogen. Und obwohl sie weiter unten am Hang wohnten, war Fredrik auf die gleiche Schule gekommen wie Martin.

      »Ist das nicht toll?«, hatte seine Mutter gesagt.

      Doch, das hatte Martin auch gedacht, obwohl er Fredrik kaum kannte.

      Fredrik mit seinen fast acht Jahren hätte eigentlich schon längst in der Schule sein müssen, aber seine Eltern hatten mit seiner Einschulung gewartet, damit er nicht schon nach dem ersten Jahr die Schule wechseln musste.

      So hatte seine Mutter es ihm jedenfalls erklärt.

      Und dann standen sie also endlich auf dem großen Schulhof, nachdem alle Schüler aufgerufen worden waren. Fredrik und Martin waren in dieselbe Klasse gekommen und standen mit zwei Jungen zusammen, mit denen Fredrik sich bereits angefreundet hatte, obwohl das der erste Tag war. Martins Mutter und Tante Cathrine hatten ein wenig abseits gestanden und sich mit der Klassenlehrerin unterhalten, als Fredrik plötzlich sagte: »Guckt euch mal den Ranzen von Martin Mausemann an! Der hat genau die gleiche Farbe wie Hundescheiße!«

      Die beiden anderen Jungen sahen Martin an und prusteten los. Der eine, Nils, konnte sich gar nicht wieder beruhigen: »Die gleiche Farbe wie Hundescheiße! Die gleiche Farbe wie Hundescheiße!«

      Zuerst hatte Martin noch regungslos dagestanden, aber dann war er losgerannt. Zu seiner Mutter. Aber er hatte nichts gesagt.

      Er hatte sich den Ranzen selbst ausgesucht und im Laden hatte das dunkle Orange total erwachsen und klasse ausgesehen. Und Martin Mausemann wurde er immer von seinem Vater genannt, wenn sie es sich gemütlich machten. Aber bei Fredrik klang das wie ein Schimpfname.

      Er erzählte seiner Mutter nichts davon.

      Als sie endlich zu Hause waren, konnte er sich nicht mehr beherrschen und heulte los. Seiner Mutter sagte er, dass er Magenkneifen hätte.

      Er wollte ein großer Junge sein. Er wollte nicht petzen. Und als sein Vater fragte, wie der erste Schultag gewesen wäre, antwortete seine Mutter: »Ganz toll, nicht wahr, Martin?« Und er hatte gelächelt. Die ganze Zeit gelächelt. Und sich vor dem nächsten Tag gefürchtet.

      Und daran hatte sich seitdem nichts geändert.

      Acht Jahre lang.

      Es war nicht immer gleich schlimm gewesen. Die fünfte und sechste Klasse hatte er in verhältnismäßig guter Erinnerung. Fredrik war in der Zeit völlig vom Sport absorbiert gewesen. Im Sommer segelte er und im Winter schleppte Tante Cathrine ihn mit auf die Skipisten. Martin war in dieser Zeit häufig mit einem ruhigen und netten Jungen aus der Klasse zusammen gewesen, der Lasse hieß. Sie hatten sich alle möglichen verrückten Sachen ausgedacht. Zum Beispiel das mit dem Kassettenrekorder, mit dem sie Radiosendung gespielt hatten. Lasse spielte mit Begeisterung Reporter; sobald sie unter sich waren, redete er nur noch mit seiner Reporterstimme. In der Schule war er eher zurückhaltend, genau wie Martin. Und wenn Fredrik oder die anderen kamen, machte er sich eiligst aus dem Staub. Seine Freundschaft hatte ihre Grenzen.

      Irgendwie konnte Martin ihn sogar verstehen. Er war zwar enttäuscht, aber er fand sich damit ab. Er wusste schließlich am besten, wie es war, sie auf sich zukommen zu sehen und genau zu wissen, was als Nächstes passieren würde. Wenn er gekonnt hätte, wäre er auch abgehauen. Aber er konnte nicht. Und normalerweise hatten sie es auf ihn und nicht auf Lasse abgesehen.

      Als sie in die Siebte kamen, war Lasse plötzlich nicht mehr da. Zwei Monate später war Bille in ihre Klasse gekommen, worauf sich Martins Situation schlagartig verschlimmerte. Bille machte Martin noch mehr Angst als Fredrik: Auf der einen Seite war Bille ein wenig wie Martin, aber gleichzeitig um Längen schlimmer als Fredrik, wenn es ums Ärgern und Quälen ging.

      Bille war ein blasser, introvertierter Typ und roch immer etwas streng, ein Geruch, den Martin nicht genau definieren konnte. Säuerlich. Abstoßend. Martin versuchte Bille aus dem Weg zu gehen, was nicht immer einfach war. Bille hängte sich an ihn ran, fragte, ob sie nach


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