Ein einziger Tag. Kjersti Scheen

Ein einziger Tag - Kjersti Scheen


Скачать книгу
traute Bille nicht über den Weg, hätte ihm am liebsten nicht geantwortet, aber irgendetwas musste er schließlich sagen. Bille hing an ihm wie eine Klette und kam oft mit zu ihm nach Hause. Und Martin, der hungrig war und was essen wollte, blieb nichts anderes übrig, als Bille auch etwas anzubieten. Martin sah seiner Mutter an, dass sie Bille nicht sonderlich mochte. Aber sie war immer nett zu ihm, so wie sie zu jedem nett war.

      Und aus eben diesem Grund schien Bille Martin zu hassen: Weil er eine nette Mutter hatte.

      Wenn Martins Mutter mal wieder besonders freundlich zu Bille gewesen war, war Bille hinterher jedes Mal besonders fies zu Martin.

      Gleichzeitig scharwenzelte er um Fredrik herum und tat so, als ob er Martin überhaupt nicht kennen würde, als ob er nie bei ihm zu Hause gewesen wäre. Er wurde Fredriks Schatten und tat alles, was Fredrik von ihm verlangte.

      Bille schien noch mehr Angst vor Fredrik zu haben als Martin.

      »Jetzt ist es bald zwölf«, sagte Susanne. »Was sollen wir denn bloß machen?«

      »Verdammt noch mal«, schnaubte Fredrik verächtlich. »Was ist denn so schlimm daran, ein bisschen zu spät nach Hause zu kommen?«

      »Ein bisschen zu spät? Nennst du das ein bisschen zu spät, wenn wir gestern Abend zu Hause sein sollten und es jetzt kurz nach zwölf am nächsten Tag ist?«

      Susanne schüttelte sich die Haare aus dem Gesicht und funkelte ihn wütend an.

      »Ach, Weiber!«

      Fredrik schaute übers Wasser und zog eine Augenbraue hoch. Martin kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut: von Fredriks Vater.

      Vibeke war noch mal unter Deck gegangen und kam gerade wieder nach oben. »Habt ihr eigentlich kein Funkgerät? Ich dachte, jedes ordentliche Boot hätte eins?«

      »Wir nehmen es im Herbst immer mit an Land«, sagte Fredrik unwirsch. »Und ich hab’s euch doch schon gesagt, verdammt noch mal, wir haben in diesem Jahr noch keine richtige Tour gemacht, weil mein Alter keine Zeit hatte! Das Boot ist noch nicht so lange auf dem Wasser, wann rafft ihr das endlich?«

      Susanne setzte sich auf die Bank und legte die Ellbogen hinter sich auf die Reling. Da saß sie nun, mit sonnenverbrannten Schultern und Oberschenkeln, in einem engen Baumwollpulli und Shorts. Sie lehnte den Oberkörper zurück und starrte mürrisch und erschöpft vor sich hin. Martins Blick wurde magisch von ihren großen Brüsten angezogen, die sie aufreizend nach vorne streckte.

      Er konnte ihre Nippel erkennen, oder wie die Dinger hießen.

      Er wandte den Blick schnell ab, bevor die anderen sich über ihn hermachten, weil er sich für Susannes Brüste interessierte. Obwohl es ja stimmte. Eigentlich. Dabei war Vibeke die Hübschere von beiden. Oder jedenfalls diejenige, mit der die meisten zusammen sein wollten.

      Vibeke mit den kurzen schwarzen Haaren und der frechen Klappe, die im totalen Kontrast zu ihrem püppchenhaften Gesicht stand. Vibeke mit der Villa in Åsen. Ihre Eltern waren reich. Nicht nur wohlhabend, sondern stinkreich. Susanne war ... die Stillere von beiden? Martin war sich nicht sicher. Sie stand meist in Vibekes Schatten, fiel nicht weiter auf. Bis sie plötzlich zuschlug. Oder so wie in diesem Augenblick mürrisch vor sich hinstarrte und den Oberkörper nach hinten bog, sodass ihre Brüste sich deutlich unter ihrem Pulli abzeichneten.

      Was Fredrik anscheinend auch nicht entgangen war, weil er sagte: »Na, da werden wir wohl noch ein zweites Mal übernachten müssen! Aber dann lässt du dich doch hoffentlich überreden, mit auf dem Boot zu schlafen, oder?«

      Sie würdigte ihn keines Blickes.

      Vibeke beugte sich vor. »Hör auf zu labern, Fredrik! Ich will nach Hause! Und wenn ich schwimmen muss!«

      In dem Augenblick wurden sie von einem Geräusch abgelenkt und drehten allesamt die Köpfe in die Richtung, aus der es kam; ein abgehacktes, stotterndes Motorenbrummen. Sie konnten nicht gleich erkennen, woher es rührte, weil das Focksegel die Sicht versperrte, aber kurz darauf entdeckten sie in einiger Entfernung einen alten Kahn, der direkt auf sie zuhielt.

      Fredrik stellte sich hin und fuchtelte wild mit den Armen.

      »Hallo!«, rief er.

      Der Mann in dem alten Kahn legte das Steuer um und trat gegen einen Kasten vor seinen Füßen, worauf der Motor einen Gang runterschaltete. Er hielt sich mit seiner breiten Hand an der Reling des Segelbootes fest.

      »Na, habt ihr eine Motorpanne?«

      Wie sich rausstellte, hatte er sie von seinem Steg aus beobachtet.

      »Hab gedacht, ich geb euch noch ’ne Stunde, wenn ihr dann immer noch nicht gestartet und aus der Bruthitze raus seid, dann stimmt was nicht mit dem Motor!«

      Er grinste. Er war schätzungsweise Anfang dreißig, sein nackter Oberkörper war braun gebrannt. Er trug ein Goldkettchen um den Hals und ausgewaschene Jeans. Fredrik sagte knapp: »Stimmt. Irgendwas ist mit dem Motor nicht in Ordnung.«

      »Soll ich mal ’n Blick drauf werfen?«, fragte der Mann, während seine strahlend blauen Augen die sechs auf dem Boot neugierig abcheckten. Fredrik zuckte die Achseln. Martin sah auf einen Blick, dass ihm diese Situation absolut gegen den Strich ging. Der Mann wartete die Antwort gar nicht erst ab, warf eine Leine über die Reling und sprang direkt hinterher. Bevor er unter Deck verschwand, legte er mit einem kurzen Handgriff die Leine seines immer noch leise vor sich hintuckernden Kahns um eine Klampe.

      Keiner sagte etwas, bis Susanne die Stille durchbrach. »Na super!« Sie lachte laut los.

      Vibeke sah sie an und fiel in ihr Lachen ein. »Gerettet«, sagte sie.

      Nils hangelte sich die schmale Treppe nach unten, um ihren Retter aus der Nähe zu betrachten. Bille rutschte nervös hin und her, den Blick starr auf Fredrik gerichtet.

      Fredrik hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ins Leere. Schließlich sagte er mit übertrieben arroganter Stimme: »Sieh einer an. Die Eingeborenen machen sich nützlich.« Er lachte los.

      Und Bille lachte mit.

      Martin holte tief Luft. Der mit dem Kahn würde den Fehler bestimmt finden. Er sah aus, als ob er Ahnung von so was hätte.

      Aber als der Braungebrannte kurz darauf aus der Kajüte hochkam und sich die ölverschmierten Hände an einem Stück Papier abgewischt hatte, sagte er: »Nichts zu machen. Das Ding muss in die Werkstatt. Ich könnte euch bis zum Ufer abschleppen. Von da aus müsstet ihr dann allerdings mit dem Bus weiterfahren.«

      Er setzte sich neben Susanne und sah sie der Reihe nach an, zog ein Päckchen Tabak aus der Tasche und drehte sich eine. »Na?«, sagte er, als er die Zigarette anzündete. »Wo kommt ihr her?«

      »Oslo«, sagte Fredrik mürrisch.

      »Das hab ich mir schon gedacht«, sagte der Mann. »Ich wollte wissen, wo euer Anlegeplatz ist?«

      »Frognerkilen«, sagte Fredrik.

      »Ah ja«, sagte der Mann und nahm einen tiefen Lungenzug, hustete und spuckte in einem hohen Bogen ins Wasser. »Wie gesagt, bis zum Ufer könnte ich euch abschleppen. Übrigens, ich heiße Sigge. Sigge Stiansen.«

      Er machte eine übertriebene Verbeugung, lehnte sich an die Reling und blies Rauch aus. Er schien sich pudelwohl zu fühlen, war völlig entspannt, hatte alles unter Kontrolle; ein rascher Seitenblick auf Susanne, ein rascher Seitenblick auf Vibeke.

      Da Fredrik keine Anstalten machte, etwas zu sagen, ergriff Nils das Wort. »Also, wir ... Ich heiße Nils. Das hier ist Fredrik, dem gehört das Boot. Das ist Bille, und die beiden Mädchen heißen Vibeke und Susanne.«

      »Und wer bist du?«, fragte Sigge und sah Martin an, der ein kaum hörbares »Martin« murmelte.

      »Na dann«, sagte Sigge. »Habt ihr denn wenigstens ordentlich Johannis gefeiert?«

      »Ja, schon«, sagte Nils. »Aber dann hatten wir die Motorpanne.«

      »Die könnte ja auch vorgetäuscht gewesen


Скачать книгу