Krumholz. Flavio Steimann

Krumholz - Flavio Steimann


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       FLAVIO STEIMANN

       KRUMHOLZ

       ROMAN

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      Edition Nautilus GmbH

      Schützenstraße 49a

      D - 22761 Hamburg

       www.edition-nautilus.de

      Alle Rechte vorbehalten

      © Edition Nautilus 2020

      Originalveröffentlichung

      Erstausgabe März 2021

      Umschlaggestaltung:

      Maja Bechert, Hamburg

       www.majabechert.de

      1. Auflage

      E-Book-ISBN 978-3-96054-248-3

      AUCH DAS KIND werde nicht lange leben.

      Widerspan hat es nur leise gesagt, als sollte man es nicht hören; den Schlauch des Stethoskops hat er verlegen um seine linke Hand geschlungen und legt sie – er muss sich dazu recken – dem Klausert ungelenk auf die breite Schulter. Der große Bauer aber, eine Eiche von Mann, ist nur noch ein Schatten und wie betäubt. Er steht, eine halbe Stunde bald, versteinert am hölzernen Pfosten vor der Schindelwand und stiert. Das Mostglas, das ihm der Dorfarzt in der verlassenen Küche randvoll mit Schnaps gefüllt hat, wirft unscharf seinen streifigen Schatten über den hell gescheuerten Tisch. Klausert hat es nicht angerührt.

      Durch den Türspalt fällt hart ein schmaler Lichtkeil auf den Sandsteinboden vor dem Hauseingang. Widerspan trägt keine Socken, die bloßen Füße stecken im grauen Filz der Galoschen, das Nachthemd hat er in einem Wulst in den Hosenbund gestopft, unter dem Mantel ist er ohne Weste, eine Uhr für den Puls hat er ohnehin nicht mehr gebraucht – es ist für alles zu spät gewesen. Er solle jetzt trinken, das werde ihm helfen, meint endlich der Arzt und weiß nicht, wohin mit seinem Blick – und nachher der Frau, wo man es nicht sehen könne, ein paar Locken vom Kopfe schneiden für die Sterbezettel; er müsse sich jetzt aufmachen zum Pfarrhaus, einen Geistlichen wecken für die Nottaufe, es eile. Die Totenscheine bringe er, wenn der Sarger zum Messen komme. Bei Tag.

      Der Bauer zittert, seine vertrockneten Lippen beben, und er schweigt. Widerspan klopft ihm drei Mal zögerlich auf die Schulter, nimmt dann die Hand vom verschwitzten Hemd, dessen nässende Kälte er schon lange am Daumen gespürt hat, streift die brüchig rauen Schlauchschlingen von den Fingern und lässt ohne hinzusehen das Instrument in die offene Bügeltasche zu Steißhaken und Kalottenscheren fallen. Dann drückt er energisch die Schnappverschlüsse zu, geht in schnellen Schritten den Treppenaufgang hinunter und schnallt die Notfallausrüstung mit einem Lederriemen hastig auf dem Träger seines angelehnten Fahrrads fest. Eilig schiebt er das Gefährt über den gestampften Vorplatz bis zur Linde, wo noch ein wenig Licht hinfällt, und dann zum Weg.

      Er hat den linken Fuß schon auf der Pedale und stößt mit dem rechten ab, um sich auf den schwarzen Condor zu schwingen, als er vermeint, einen Schrei zu hören, lang und heiser wie von einem waidwunden Tier. Aber Widerspan zieht den Kopf zwischen die Schultern, fährt los und schaut nicht mehr zurück, die Krimmermütze tief ins Gesicht geschoben.

      Der Schotterweg hinauf zur Kuppe verläuft in einer steilen Kehre. Widerspan ist aus dem Sattel gegangen, keuchend, die Lenkstange krampfhaft umfasst, nimmt er die Steigung im Wiegetritt. Wenn das Hinterrad im lockeren Belag nicht mehr greift, schleudert Splitt bis ins Wiesland hinaus.

      Es dauert, bis er endlich die Anhöhe erreicht. Sein heißer Atem vernebelt im kühlen Zug.

      Es muss wohl schon gegen vier Uhr gehen, die Nacht ist kalt. Der späte Maifrost, der über das weite Moorstück gezogen ist, hat den Torf versilbert, gegen das Widerlicht, das im Osten kaum merkbar den Himmel hellt, zeichnet sich über den Weihern wie ein aufgereckter Tellerdolch schwarz der Glockenturm des Klosters ab. Dünn belaubte Bäume, die den Blust verloren haben, stehen als dunkle Skelette am Weg.

      Dann fällt die Straße ein Stück weit ins Tal, die Abfahrt kommt Widerspan gelegen, der noch junge Arzt braucht Luft um den Kopf und Wind.

      Die Entscheidung darüber, wessen Leben man aufgeben solle, hat ihn mitgenommen. Wohl schon das elfte Kind dürfte es sein in diesem Jahr, das, noch nicht auf der Welt oder nur für wenige Stunden, lebensunfähig abgegangen ist, zumeist nach einem Partus violentus, nicht wenige Male aber auch beim praematurus, beim letzten war gar ein caesareus schuld mit anschließender Embolie.

      Auch wenn er in dieser Nacht alles gegeben hat, ist es am Ende der Beckenenge wegen zu einem unschönen Partus post mortem gekommen. Das Kind war von der Kreißenden, die in jungen Jahren etwas rachitisch gewesen war, längst übertragen worden, die Möglichkeit eines lebensrettenden Accouchement forcé nach Fournier darum schon vertan, und hätte er nicht der Toten die Schoßbeine mit der gezahnten Kette durchgesägt und ihr das enge Becken geweitet, hätte er die Frucht nicht mehr lebend herausgebracht. Der Gebärmutterhals war schon gerissen und ein Arm darin verfangen.

      Der Prügelweg, der am Bach entlang zum Dorf führt, ist holprig. Trotz des rauschenden Fahrtwinds hört er, wie das Besteck im ungefütterten Behälter aus Sattelleder metallisch gegeneinanderschlägt.

      Bei den drei Eichen über der Kiesgrube hält er an und zieht den Riemen um seine Tasche fester. Dann atmet er die kalte Luft und schaut in die Weite.

      Als er die Nabelschnur getastet hat, war da noch ein feiner Puls, eine Lebendgeburt darum nicht von vornherein ausgeschlossen. Hätte man die Mutter retten und dafür das Kind opfern wollen oder wäre mit einer sicheren Totgeburt zu rechnen gewesen, hätte er gröber verfahren müssen – die Enthirnung mittels des scharfen Hakens und ein forcierter Abort sind ihm in dieser Nacht erspart geblieben. Das kleinherzige Kind mit seiner schwachen Lunge aber, da hat Widerspan keine Zweifel, wird, noch ehe es das Licht des aufkommenden Tages erblickt hat, seiner Mutter folgen. Er hat noch keines gesehen, das mit einer solchen Zyanose überlebt hat.

      In der Kammer liegt die junge Bauersfrau im Ehebett auf einer ausgelegten Gummischürze, zwischen den gespreizten Beinen in einer Lache der blutige Mutterkuchen, unter den Knien ein Haufen von schweren Barchenttüchern, streifig vom Auswringen und wie zu armdicken Stricken gedreht.

      Die Dorfhebamme, die mit der regelwidrigen Geburt nicht mehr zu Rande gekommen ist und zu spät nach dem Arzt hat rufen lassen, hält mit verweinten Augen das wimmernde Wesen, eingerollt in ein Windeltuch, in ihrem Arm. Es ist ein bläuliches Fleischlein, kümmerlich und bald schon am Verkühlen, die verschlossenen Augen, wo an den flaumigen Brauen und Wimpern ein flockiger, zäher Ziger hängt, hat es nie geöffnet, auf seinem verschleimten Scheitel kleben, wie Würzelchen an einer frisch gegrabenen Knolle, nasse Strähnchen von dünnseidigem, rötlichem Haar.

      Die Geburtshelferin, sonst vielem gewachsen, hatte bald nicht mehr ein und aus gewusst. Das entrollte Segeltuch mit dem Notbesteck liegt achtlos hingeworfen im Durcheinander von Salben und Essenzen auf dem Marmor der Kommode, das Pinard-Rohr aus Buchenholz ist im Gehetze vom Nachtschränklein gefallen und unter das Bett gerollt, das Wasser im Zuberchen aus Zinkblech seit einer Stunde bald erkaltet.

      Sie hat das Kind in ihrer Verzweiflung schon mit ein paar Tropfen aus einem Schälchen notgetauft für den Fall, dass der Herr es zu sich nehmen wird, bevor der Pfarrer mit dem geweihten Wasser kommt; es soll, solange sein kleines Herz noch schlägt, ihre Wärme spüren, und während das Gesichtchen, wenn ihr wieder das Augenwasser kommt, verschwimmt und sich zu einem schiefen Frätzchen verbiegt, bewegt sie lautlos ihre Lippen und spricht zu Gott. Fromm beten muss man in einer solchen Stunde, damit dies unschuldige Würmlein ein Fürbitter im Himmel wird, ein Engel, und um alles in der Welt kein Wiedergänger, der einem nach dem Kirchgang auf dem Buckel hockt. Ein Ungetauftes, das weiß sie, müsste man unter der Schwelle vergraben, weil es ansonsten vor einer solchen Seele keine Ruhe mehr gäbe.


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