Zwei und zwei. Tessa Hadley
dass er einfach er selbst war und kein Traum.«
»Niemand ist perfekt.«
»Er war laut und er hat viel geredet, als wüsste er über alles Bescheid – dabei war das häufig nur Bluff. Er hat zu viel getrunken, und dann war er unausstehlich; wenn er betrunken war, wurde man nicht aus ihm schlau.«
»Er hat alles Unangenehme unter den Teppich gekehrt«, sagte Christine. »Manchmal war er sentimental, er wollte alles zu hoffnungsvoll sehen.«
Lydia saß ganz still, ihr Gesicht war weiß. »Für mich war das schwierig, weißt du. Manchmal war er nämlich bequem, er wollte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen.«
»Aber genau deshalb ergänzt ihr zwei euch so perfekt!«, beharrte Christine hitzig – als wollte sie die Ehe ihrer Freundin retten, statt sie über ihren Verlust zu trösten. Dann wurde ihr klar, dass dies für immer der letzte Tag war, an dem Zachary lebendig gewesen war, und der sollte nicht zu Ende gehen. Doch als sie auf die Uhr sah, war es schon nach Mitternacht.
»Sag mir, wenn du schlafen willst«, redete sie Lydia sanft zu. »Das Bett ist fertig gemacht. Ich setz mich zu dir, wenn du möchtest.«
»Ich kann nicht!« Lydia erschauerte. »Stell dir vor, ich wache auf, und dann das. Jetzt komme ich damit zurecht, weil ich ganz aufgedreht bin, aber ich glaube, ich kann es nicht ertragen, das alles von mir abfallen zu lassen und dann wieder von vorn anfangen zu müssen. Außerdem warte ich auf Grace. Ich muss doch für sie wach bleiben. Ich weiß ja, dass ich eine miserable Mutter bin. Ab jetzt muss ich mich bessern.«
»Aber sie ist nicht vor morgen Mittag hier, frühestens.«
Lydia rauchte eine Zigarette nach der anderen, schaute zwischen den Zügen das brennende Ende an und hustete. »Eigentlich will ich mir das Rauchen nicht wieder angewöhnen. Ich habe das nur getan, um Alex zu ärgern.«
Sie machten eine neue Flasche auf, und bald waren Lydias Lippen und Zähne vom Rotwein blau. Schließlich legte sie sich doch schlafen, und am frühen Morgen hörte Christine sie weinen und ging im Pyjama ins Gästezimmer, setzte sich zu ihr aufs Bett. Lydia ergriff ihre Hand und zog sie unter der Bettdecke wieder an ihren Bauch, der heiß, verspannt und hart war. »Ich spüre es hier drinnen«, sagte sie. »Es ist ein Schmerz, ein entsetzlicher Schmerz. Aber Liebe ist es nicht. Dir muss ich die Wahrheit sagen, sonst niemandem. Anders kann ich es nicht ertragen. Du weißt, dass es keine Liebe ist, nicht wahr?«
Grace war am Ende ihres dritten Jahrs als Kunststudentin, eine sehr begabte Bildhauerin in Stein und Holz. Alex fuhr die ganze Nacht und kam bei Tagesanbruch in Glasgow an. Er schlief eine Stunde im Auto, dann suchte er im ersten Morgenlicht die Adresse, die Hannah ihm gegeben hatte. Die Stadt wirkte auf ihn wie ein Totenreich – hinter der schwarzen Kathedrale ragte eine viktorianische Nekropole auf, in einem riesigen Krankenhaus brannten alle Lichter. Grace teilte sich mit anderen Studenten ein Haus über einem Laden an der Southside von Glasgow; vor allen Ladenfenstern waren Rollläden aus Metall heruntergelassen. Inzwischen war es sieben Uhr. Die Haustür lag neben dem Ladeneingang, die Klingel funktionierte nicht; Alex hämmerte mit der Faust dagegen, nicht laut, aber beharrlich, unnachgiebig; nach einiger Zeit hörte er drinnen auf der Treppe Schritte, und ein Junge kam zur Tür, auf Unannehmlichkeiten gefasst. Alex sagte, er müsse Grace sprechen, es sei wichtig, ein Krankheitsfall in der Familie. Grace sei vermutlich nicht da, erwiderte der Junge. Er werde in ihrem Zimmer nachsehen. Nein, sie sei letzte Nacht auf einer Party gewesen und nicht nach Hause gekommen.
»Was für eine Party? Wo?«
Alex fuhr dahin, wo die Party stattgefunden hatte – dort war Grace auch nicht. Er bahnte sich einen Weg durch eine apokalyptische Szene, in Schlafsäcken zusammengerollte Leiber zwischen dem Partymüll; ein Mädchen, das in der Küche Eier briet, erinnerte sich, dass Grace mit irgendwem von der Party weggegangen war. Sie schaute Alex zögerlich an, bevor sie ihm Näheres erzählen wollte. »Sie können sie doch auf dem Handy anrufen«, meinte sie. Er erklärte, dass jemand aus Grace’ Familie krank geworden sei und sie das umgehend erfahren müsse, er sei extra aus London hergefahren, um es ihr persönlich mitzuteilen. Dann machte er sich zu einem wieder anderen Haus auf, jemand ließ ihn herein und rief nach Grace, die im oberen Stock schlafe. Alex ging hinauf, um sie zu suchen. Es war ihm egal, was er dort sah, obwohl er zu jeder anderen Zeit Grace’ Privatsphäre respektiert hätte. Sie schlief in einem beengten kleinen Zimmer auf einer Matratze auf dem Fußboden, die Bettdecke über den Kopf gezogen; er erkannte sie an ihrem dichten schwarzen Wuschelkopf. Sie und ihr Freund von letzter Nacht schliefen, ohne sich zu berühren, einander den Rücken zugekehrt, der des Jungen von Pickeln übersät. Es stank nach ihren Körpern, nach Zigarettenrauch und Sex. Vor dem geschlossenen Fenster hing ein dicker Vorhang; Alex öffnete das Fenster und setzte sich dann neben dem Matratzenlager auf den Fußboden, um zu warten, bis Grace aufwachte. Unter seinem starren Blick schlug sie die Augen auf, ihr Atem schal vom Schlaf. Als sie ihn erkannte, setzte sie sich abrupt auf. »Was machst du denn hier, Alex?«
Sie rappelte sich auf allen vieren hoch, wich vor ihm zurück an die Wand, als wollte sie die Flucht ergreifen; sie sah ihrem Vater so ähnlich, dass es ihm fast die Sprache verschlug. Das schmutzig weiße T-Shirt bedeckte ihre Blöße nicht. Sie war knabenhaft schlank, und das borstige dunkle Schamhaar sah genauso aus wie Zacharys. Ihre Schönheit war nicht von der Art, die Alex bei Frauen begehrenswert fand, zu forsch; sie hatte diese Forschheit schon als kleines Mädchen gehabt, und das hatte einen schmerzhaften Beschützerinstinkt in ihm geweckt, da er um die Folgen ihrer Unverblümtheit und Unbefangenheit fürchtete. Zu seiner Erleichterung war seine eigene Tochter Isobel zurückhaltend und feminin, konnte gut auf sich aufpassen. Grace war groß und kräftig gebaut, muskulös durch ihre Arbeit mit harten Werkstoffen; ihre kleinen Brüste waren nur Punkte unter dem T-Shirt, und ihr Kopf war wohlgeformt, von geradezu klassischen Proportionen, fast schon androgyn; ihr drahtiges Haar wuchs sich zu einer dichten Masse von Schwarz aus. Unter normalen Umständen besaß sie einen trockenen Humor. Sie und Alex konnten meist wunderbar scherzen, wenn sie zusammenkamen.
»Wer ist das?«, fragte der Junge und streckte hilfsbereit die Hand nach Grace aus, doch sie schüttelte ihn ab, schlug nach ihm, was Alex zeigte, dass er ihr nichts bedeutete. Dieser mit der Situation völlig überforderte Junge mit dem rötlichen Stoppelbart war eindeutig ein Fehlgriff gewesen.
»Würden Sie uns bitte allein lassen?«, sagte Alex. »Ich habe ihr etwas mitzuteilen.«
Grace hielt sich die Ohren zu. »Nein, nein, sag’s mir nicht. Ich will es nicht wissen! Ich will es nicht hören!«
Der Junge war verwirrt. »Was soll das alles?«
»Es tut mir so leid, meine liebste Grace«, sagte Alex.
»Erzähl’s mir nicht!«, rief sie.
Hinterher sagte sie, sie habe es gewusst, sobald sie die Augen aufgeschlagen und sein Gesicht gesehen habe. »Du solltest dein Gesicht sehen, Alex. Es verrät alles. Und natürlich, wenn jemand anders gestorben wäre, wäre Dad gekommen, um es mir zu sagen.«
Auf der Fahrt nach Hause hielt sie ihren kleinen Rucksack auf den Knien und war ganz sie selbst: Sie schaute aus dem Fenster, nahm alles auf, stellte ihm vernünftige Fragen danach, was passiert war. Er wiederholte ihr alle schon zum Mythos werdenden Einzelheiten über Jane Ogdens neue Ausstellung, Zacharys Umkippen in der Galerie, sein Aufschlagen mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. »Aber warum, aber warum?«, fragte Grace, wobei sie durch die Windschutzscheibe starr geradeaus sah, sich kaum wahrnehmbar vor und zurück wiegte, wie ein Kind, und den Rucksack umklammerte, den sie nicht auf den Rücksitz oder auf den Boden legen wollte. Irgendwann verkündete sie, sie sterbe vor Hunger, und sie hielten an einer Autobahnraststätte. Sie verspeiste mit allen Anzeichen gesunden Appetits ein ekelhaftes Zeug – ein komplettes englisches Frühstück; kurz darauf, als sie wieder auf der Autobahn waren, musste er schnell auf den Seitenstreifen fahren. Sie sprang aus dem Wagen und übergab sich in das mit Gänseblümchen durchwachsene hohe Gras, das in sinnlichen Wellen im Wind schwang.
»Das war melodramatisch«, sagte sie, als sie wieder neben ihm saß und sich den Mund abwischte. »Tut mir leid.«
»Melodrama ist derzeit angesagt«, antwortete er. »Tu einfach, wonach dir