Das kleine Buch vom Meer: Inseln. Olaf Kanter

Das kleine Buch vom Meer: Inseln - Olaf Kanter


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Nantucket ihre Hatz auf die hohe See ausdehnen. Und plötzlich, innerhalb weniger Jahre, entwickelt sich der Hafen der Insel zur Profitmaschine, wie es die Geschichte nur selten gesehen hat. Die Jäger brauchen Schiffe, die Werften heuern Zimmerleute an, die Tranfabriken suchen Arbeiter, und die rasant wachsende Bevölkerung will natürlich auch versorgt werden.

      Bald kann man im engen Hafen der Insel die Masten von hundert Großseglern zählen. Ihr Jagdrevier ist nun nicht mehr nur der Atlantik vor der Tür, denn ihre liebste Beute, der Pottwal, ist ein Weltenbummler. Fangreisen gehen vorzugsweise bis in den fernen Pazifik – und sie dauern schon mal zwei, drei oder sogar vier Jahre. Erfolgreiche Kapitäne bringen es zu großem Wohlstand, was es ihnen ermöglicht, auf die Nachbarinsel Martha’s Vinyard umzusiedeln. Dort bleiben sie von dem garstigen Gestank verschont, der bei der Verarbeitung von Walspeck leider unvermeidlich ist.

       Manche mutwilligen Wichte werden euch erzählen, dass sie das Unkraut da erst anpflanzen müssen, es wächst nicht von alleine; dass sie kanadische Disteln importieren; dass Holzstückchen in Nantucket herumgetragen werden wie Splitter vom heiligen Kreuze in Rom; dass die Leute hier Fliegenpilze vor ihre Häuser pflanzen, um zur Sommerszeit unter deren Schatten zu sein.

      Vom Hafen ist es nicht weit bis zur Piratenschenke „Brotherhood of Thieves“. Wenn man der Hauptstraße landeinwärts folgt, landet man automatisch dort. Der Wirt empfiehlt ein Bier, das auf der Insel gebraut wird. Auf dem Etikett der Flasche: die Fluke eines abtauchenden Wals. Whale’s Tale Pale Ale nennen sie das bernsteinfarbene Bier. Schöne kräftige Hopfennote, wie das bei einem Ale sein muss. Und der zungenbrecherische Name des Gebräus soll wohl schon manches Trinkspiel inspiriert haben, was den Absatz des Wal-Ales kräftig angekurbelt haben dürfte. Der Wirt weiß jedenfalls von den Teilnehmern einer Segelregatta zu berichten, die dabei die Vorräte der Insel in nur einer Nacht vernichtet haben.

      Aber zurück zu den Tagen, als nicht Bier, sondern Tran die Geschicke der Insel bestimmte. 1819, also zur Blütezeit des Walfangs, sticht die „Essex“ von Nantucket aus in See. Unter dem Kommando des nur 28 Jahre alten Kapitäns George Pollard segelt der Dreimaster ohne besondere Vorkommnisse (man erlegt und schlachtet unterwegs ein paar Wale) über den Atlantik, umrundet das Kap der Guten Hoffnung, quert den Indischen Ozean und erreicht schließlich das eigentliche Fanggebiet – den Pazifik.

      Am 20. November 1820 sichtet die Crew eine Schule von Pottwalen und macht die Beiboote klar. Von diesem Augenblick an geht alles schief, wie es nur auf einem Schiff und auf hoher See schiefgehen kann. Die Wale lassen sich nicht brav harpunieren, sondern greifen die Boote der Jäger an. Kapitän Pollard ruft seine Crew zurück an Bord, doch im selben Moment rammt ein besonders großer Pottwal die „Essex“, und zwar so hart, dass die Planken bersten. Wie betäubt bleibt der Riese einen Moment liegen, um dann erneut Anlauf zu nehmen. Wieder und wieder wirft er sich gegen das Schiff, bis es nicht mehr zu retten ist. Der Besatzung gelingt es noch, Proviant und Ausrüstung zu bergen. Dann sinkt der Kahn, und Pollard und seine Männer sitzen mitten auf dem Pazifik in drei winzigen Ruderbooten. Bis zur Küste Südamerikas sind es bestimmt zweitausend Meilen.

       Die Nantucketer erforschten schließlich, indem sie eine Flotte mächtiger Schiffe vom Stapel zu Meere ließen, die wässrige Welt; zogen einen unaufhörlichen Gürtel aus Umsegelungen darum herum; schauten zur Beringstraße herein und erklärten zu jeder Jahreszeit und in allen Weltmeeren der mächtigsten animalischen Masse, welche die Sintflut überlebte, (…) den ewigen Krieg.

      Wer sich von Berufs wegen mit ausgewachsenen Walen anlegt, ist so schnell nicht aus der Fassung zu bringen. Pollard nimmt Kurs auf Pitcairn, und einen Monat später landet er tatsächlich auf der Nachbarinsel Henderson. Ein unwirtliches Eiland, es gibt kaum Süßwasser und zu wenig Nahrhaftes, um 21 Männer satt zu kriegen. Drei Seeleute entscheiden sich zu bleiben, die anderen steigen wieder in die Boote, um die Osterinseln zu erreichen. Schon bald werden die Boote getrennt, und als der Proviant ausgeht, beginnt das Sterben. Die ersten drei Leichname werden noch bestattet, wie sich das auf See gehört. Doch der Hunger ist so groß, dass sie auf zwei Booten anfangen, ihre Toten zu essen. Vom dritten Boot hat man nie wieder etwas gesehen.

      Das Boot unter dem Kommando des Ersten Offiziers Owen Chase wird am 23. Februar auf Höhe der Juan-Fernandez-Inseln von der Crew eines Walfängers entdeckt, Pollard und die Leute im zweiten Boot müssen noch bis zum 5. April ausharren, bevor sie vor der Küste Chiles von einem Schiff aufgelesen werden. Acht Männer überleben die Tortur – außerdem die drei Mitglieder der Besatzung, die auf Henderson geblieben sind. Und sieben Seeleute werden aufgegessen.

      Woher wir das alles bis zum letzten grauenvollen Detail wissen? Der Erste Offizier, Owen Chase, hat die Odyssee aufgeschrieben und als Buch veröffentlicht. Aber damit ist die Geschichte längst noch nicht zu Ende, denn sein Sohn, den er William nennt, heuert 1841 als 16-Jähriger ebenfalls auf einem Walfänger an. Als Lektüre hat er sich ausgerechnet den grausigen Bericht seines Vaters mitgenommen. Unterwegs leiht er es einem Kumpel an Bord der „Acushnet“ – dem Abenteurer Herman Melville. Der Rest ist Literaturgeschichte: Das Schicksal der „Essex“ wird zum Vorbild für den Walfänger „Pequod“ im größten Roman, der je über die Seefahrt geschrieben wurde. Und der riesenhafte Wal, der das Schiff von Pollard und Chase rammt, wird als „Moby Dick“ unsterblich.

       Mag Amerika Texas um Mexiko vergrößern und Kuba auf Kanada türmen; mögen die Engländer ganz Indien überschwärmen; zwei Drittel dieses aus Land und Wasser gefügten Erdballs gehören dem Nantuckter. Denn das Meer ist sein; er besitzt es, wie die Kaiser Kaiserreiche besitzen; während andere Seefahrer nur ein Wegerecht hindurch haben.

      So wie sich Herman Melville in Nantucket auf der „Acushnet“ eingeschifft hat zur Jagd auf den Wal, so gehen auch sein Held Ismael und dessen Kumpan, der Harpunier Queequeg, auf der Insel vor Cape Cod an Bord ihres Schiffs. Ihr Kapitän lässt sich erst Tage später zum ersten Mal an Deck blicken. Er schwört seine Crew auf das wahre Ziel der Expedition ein: den weißen Wal zur Strecke zu bringen, der ihm das Bein abgerissen und ihn zum Krüppel gemacht hat. Ahab nagelt ein Goldstück an den Mast und verspricht es demjenigen, der Moby Dick zuerst sichtet. Die „Pequod“ segelt bis weit in den Pazifik, bevor man den Wal schließlich östlich von Japan stellt. Es kommt zum finalen, drei Tage währenden Kampf. Moby Dick, von einer Harpune getroffen, versenkt das Schiff, wie der Gigant in der Erzählung von Owen Chase. Eine Schlaufe der ausrauschenden Harpunenleine legt sich Ahab um den Hals – und er wird vom Wal in die Tiefe gerissen.

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      Als der Roman 1851 erscheint, kehrt Melville noch einmal nach Nantucket zurück. Er trifft George Pollard, der auch bei seiner zweiten Reise als Kapitän Schiffbruch erlitten hat. Mit dem Walfänger „Two Brothers“ ist er nordwestlich von Hawaii im Sturm auf ein Korallenriff aufgelaufen, Schiff versenkt. Der Pechvogel Pollard gibt die Seefahrt auf und wird Nachtwächter auf Nantucket. Melville soll nach dem Gespräch mit dem Unglückskapitän gesagt haben: „Für die Nantucketer war er jetzt ein Niemand. Für mich bleibt er ein Mann, der mir imponiert hat wie kein anderer.“

      Auch die Insel selbst erlebt einen dramatischen Niedergang. So rasant, wie Nantucket aufgestiegen ist zur Welthauptstadt des Walfangs, so schnell gerät es wieder in Vergessenheit. Schicksalhaft wirken verschiedene Faktoren gleichzeitig, die sich gegenseitig verstärken und nicht abwenden lassen. Erdöl läuft Tran den Rang ab als Schmiermittel und Brennstoff für Lampen. Die Wale sind bereits so weit dezimiert, dass die Jäger immer weiter und immer länger segeln müssen, um ihre Beute zu finden. Und dann bekommt New Bedford, der große Konkurrent auf dem Festland von Massachusetts, auch noch einen Eisenbahnanschluss – ein entscheidender Vorteil. Die Flotte der Walfänger zieht um, nicht zuletzt, weil die Gezeitenströme vor Nantucket eine Sandbarre angespült haben, die es für große Schiffe immer schwieriger macht, den Inselhafen anzulaufen. Dazu kommt eine Katastrophe, die den Exodus der Bevölkerung beschleunigt: Im Sommer 1846 verwüstet ein Großbrand den Ort, Tausende Fässer Tran und die Häuser alle aus Holz – Nantucket brennt wie Zunder. Die Menschen fliehen von der Insel, und viele kommen nicht mehr zurück.

       Der


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