Emma schreibt. Armand Amapolas

Emma schreibt - Armand Amapolas


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sonst allenfalls in Reiseteilen auftauchte. Und auf Postkarten und Plakaten hatte Emma das weiße Ding natürlich auch schon gesehen, nebenbei, aus dem Augenwinkel, wie man so sagt. Aber dass es so groß, so gewaltig, so überwältigend ist, das hatte sie nicht geahnt. Es schien einer komplett anderen Welt entsprungen als das La Palma und ihr, also Oma Ilses, Apartment dort im spießigkleinbürgerlichen Puerto de la Cruz.

      »Gehen Sie um das Auditorio herum«, hatte Hanisch sie instruiert, »oder hindurch, wie Sie mögen. Auf der anderen Seite gibt es ein Bistro. Da werden Sie mich finden.«

      Jetzt war sie hier. Emma entschied sich fürs Drumherum-gehen, auf der Atlantikseite. In Herten hatte es aus nassgrauem Himmel genieselt, als sie aufgebrochen war. Hier kam sie gar nicht erst in Versuchung, den leichten Anorak anzuziehen, den sie mitgenommen hatte. »Ihr Gepäck bringt der Taxifahrer gleich ins Hotel.« Hanisch schien ein guter Organisator zu sein. Er hatte auch das Hotel für sie gebucht. Emma hatte glatt vergessen zu fragen, welches Hotel. Schon schön, so umsorgt zu werden! Ein völlig neues Gefühl. Sie konnte jetzt ahnen, wie es Ministern oder Managern erging, die immer nur ein- und aussteigen und ein- oder auschecken mussten – den Rest erledigte ihr Büro für sie. Daran konnte man sich gewöhnen. Emma begriff, warum es vielen einst Bedeutenden so schwer fiel, von Dienstwagen und Sekretärin und dem ganzen Drumherum Abschied zu nehmen. Sie mussten ja zwischenzeitlich verlernt haben, wie man Fahrkarten löst oder Milch einkauft.

      Links von ihr ragten pittoresk angerostete Bohrtürme in den makellos blauen Himmel, vor der Skyline der Inselhauptstadt. Falls Skyline das richtige Wort war. Zwar fielen Emma ein paar größere Gebäude ins Auge, auch ein markanter Kirch- oder Rathausturm, aber alles Menschenwerk wurde überragt von einem wild gezackten Gebirgszug gleich hinter der Stadt. Die Bohrtürme schienen zu Bohrinseln zu gehören, die hier offenbar »geparkt« waren, vermutlich um repariert zu werden. Einen Anstrich konnten sie jedenfalls vertragen, so grünlich-rostbraun gescheckt sie waren, als wollten sie den Kontrast zwischen der Welt der Arbeit, ihrer Welt, und der Welt der Kultur, dem weißglitzernden Auditorio, betonen. Im Hafenbecken hinter den Türmen ruhte ein blauweiß bemaltes Kreuzfahrtschiff. Es kam Emma abstrus groß vor im Vergleich zu den sonstigen Bötchen und den Gebäuden der Stadt. Wie ein Bobbycar in einer Märklinwelt.

      Eine breite Promenade führte um die glänzende Narrenkappe herum. Der Glanz, sah Emma jetzt, verdankte sich Reflexionen auf vermutlich Hunderttausenden oder gar Millionen von weißen Keramikfliesen. Daraus bestand die »Haut« des Gebäudes. Von hier aus gesehen erinnerte es Emma weniger an eine Narrenkappe als an eine brütende Glucke. Mit jedem weiteren Schritt veränderte sich die Perspektive, kamen Emma neue Assoziationen. Die spitze Zunge über dem Hauptbau: sollte sie womöglich eine Welle symbolisieren? Wobei nichts darauf hindeutete, jedenfalls in Emmas Augen, dass hier Musik gemacht wurde. Oder doch: einige der dicken Felsbrocken, deren Aufgabe es offenbar war, die Promenadenmauer vor der Brandung zu schützen, waren mit bunten Gesichtern bemalt, darunter standen Namen: Wolfgang Amadeus Mozart, John Lennon, Pablo Casals, Ennio Morricone…

      Welche Brandung? Jetzt und hier gab sich der Atlantik brav. Er spielte blaugefärbter Ententeich. Aber Emma wusste: das konnte sich rasch ändern.

      Auf der anderen Gebäudeseite fiel ihr jetzt eine Reihe von Tischen ins Auge. Dort saßen einige Menschen, offenbar essend und trinkend und entspannt, aber animiert miteinander plaudernd, wie auf einer Bühne, einige Stufen über der hier platzartigen Promenade, unter hochgeklappten Holztüren, im Maul des Gebäudes sozusagen; zwischen dessen steinernen und hölzernen Lippen.

      Am hintersten Tisch, aus Emmas Perspektive, saß ein Mann ohne Begleitung, mit dem Rücken zum Mundwinkel des eigenartigen Gebäudes. Er schien Emma schon seit längerem zu beobachten und winkte ihr augenblicklich zu, als sie ihn wahrnahm und Blickkontakt herstellte.

       4

      Horst Hanisch sah ganz anders aus, als Emma ihn von Wahlplakaten und Zeitungsfotos in Erinnerung hatte. Er war untersetzt, aber drahtig, trug eine bordeauxrote Khakihose und darüber ein offenes weißes Hemd. Seine unbestrumpften Füße steckten in lässig, aber edel wirkenden Leinenschuhen. Rund um seinen braungebrannten Hals schimmerte ein dünnes, goldenes Kettchen. Seine zwischen dunkelblond und beige-grau changierenden Haare ließen zwar eine sehr hohe Stirn frei, fielen drum herum aber in kräftigen Locken über die Ohren. Emma hätte in dem Mann, der ihr aufmerksam entgegenkam, die Hand reichte und ihr einen Stuhl zurechtrückte, eher einen Dirigenten vermutet, der auf seinen Auftritt im Auditorio wartete, als einen ehemaligen deutschen Bundestagsabgeordneten. Mit denen assoziierte sie gedeckte Anzüge und langweilige Krawatten.

      »Frau Schneider! Offenbar ist Ihr Flieger pünktlich gewesen. War der Flug angenehm?«

      Emma bestätigte. Vier Stunden und zehn Minuten hatte er gedauert, exakt wie angekündigt. Die Flugbegleiter waren unaufdringlich, der Platz neben ihr war frei geblieben. Nur kurz vor der Landung hatten ein paar kräftige Böen die Maschine kurz flattern lassen. Keiner Aufregung wert.

      Horst Hanisch und Emma sahen sich eine gefühlte Minute lang schweigend an. Emma kam sich vor wie im Western. High Noon. Auge in Auge mit, ja: mit wem? Mit einem Bösewicht oder dem Sheriff? Einem Widersacher, Nebenbuhler? Wer zog zuerst? Wer brach den Blickkontakt ab und beendete das Schweigen?

      Ihr Gastgeber schmunzelte und winkte einen Kellner herbei. »Was möchten Sie trinken? Ich empfehle ein Glas Weißwein, einen fruchtigen, trockenen Tropfen aus dem Valle de Güímar, gleich hier um die Ecke. Und etwas essen sollten Sie auch. Ich nehme an, im Flieger sind Sie eher nicht satt geworden.«

      Das stimmte. Das ihr dort zum Fraß vorgeworfene Sandwich – »Käse oder Salami?« – hatte Emma dankend abgelehnt. Ihre letzte Mahlzeit war ihr Frühstück gewesen. Aber ob sie jetzt schon Wein trinken sollte… Überhaupt war das womöglich eine Test- oder Fangfrage. Hanisch könnte ihre Selbstdisziplin und Arbeitsmoral ausloten wollen. War das hier nicht ein Vorstellungsgespräch, wenn auch eines auf ungewöhnlicher Bühne?

      Er schien ihr anzusehen, was sie dachte. »Trinken Sie ruhig Wein! Schauen Sie, mein Glas ist schon halb leer! Wenn Sie auch Wein bestellen, verschafft mir das ein Alibi, ein zweites kommen zu lassen, also! Wissen Sie schon, was Sie essen wollen? Sie sind natürlich eingeladen.«

      »Danke. Was können Sie empfehlen?«

      »Hier gibt es lauter leckere Kleinigkeiten. Die Ravioli mit Gorgonzola-Füllung in Steinpilzsauce zum Beispiel sind ganz ausgezeichnet. Aber sehen Sie sich die Karte an!«

      Emma orderte Kalbstartar mit pikanter Salsa, Hanisch die Ravioli.

      »Sie sind sehr großzügig. Das Essen und der Flug und das Hotel, für drei Nächte gleich! Das Taxi. Das läppert sich. Und alles womöglich für nichts und wieder nichts. Wenn Sie feststellen, dass ich doch nicht Paul Bärkamp bin.«

      Hanisch grinste. »Das sehe ich, dass Sie nicht Paul Bärkamp sind. Oder er hätte sich sehr zu seinem Vorteil verändert. Die Geschlechtsumwandlung nicht zu vergessen. Journalistisch aber sieht er in Ihnen eine Gleichgesinnte, das hat er mir versichert. Die Frau Schneider, hat er gesagt, das ist noch eine, die sich an Regeln hält und an Absprachen. Außerdem hat sie einen Blick für Menschen, ist unerschrocken, unbestechlich und kann, nicht zuletzt, toll schreiben. Hat er gesagt. Er hält große Stücke auf Sie, der Herr Bärkamp.«

      »Tut er das? So ähnlich hat er das tatsächlich auch in mein Zeugnis geschrieben, als wir beide aufhören mussten, bei der Halterner Post. Aber Sie wissen ja, was von Zeugnissen zu halten ist. Da steht immer nur Gesülztes drin.«

      »Das hat Herr Bärkamp auch noch versprochen: dass Sie Humor hätten und sich nichts vormachen ließen. Eine echte Ruhrgebietspflanze, hat er gesagt.«

      »Und er hat Ihnen auch verraten, dass ich arbeitslos bin, nehme ich an.«

      »Jedenfalls hat er angedeutet, dass Sie einen Job bei der Revue aufgegeben haben. Aber warum, das hat er mir nicht gesagt.«

      Emma schwieg. Der Kellner erschien mit Gläsern, einer Flasche Wasser, Servietten und Bestecken.

      »Allerdings habe ich ein wenig recherchiert«, nahm Hanisch


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