Maigret und der faule Dieb. Georges Simenon

Maigret und der faule Dieb - Georges  Simenon


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       Der 57. Fall

      Georges Simenon

      Maigret und der faule Dieb

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Regina Roßbach

      Kampa

      1

      Nicht weit von Maigrets Kopf ertönte ein schrilles Geräusch. Aufgeschreckt und verärgert begann er sich hin und her zu wälzen, streckte einen Arm unter der Bettdecke hervor und schlug durch die Luft. Er wusste, dass er in seinem Bett lag, und auch, dass seine Frau neben ihm war. Sie war schneller wach als er und wartete im Dunkeln, traute sich aber nicht, etwas zu sagen.

      Worüber er sich aber täuschte, einige Sekunden lang zumindest, war die Herkunft dieses aufdringlichen und aggressiven Geräuschs. Der Irrtum unterlief ihm immer im Winter, wenn es draußen sehr kalt war.

      Er glaubte dann, der Wecker hätte geklingelt, obwohl schon seit seiner Heirat keiner mehr auf seinem Nachttisch stand. Und es war sogar noch länger her, dass ihn das Rasseln eines Weckers so früh aus dem Schlaf gerissen hatte, als er nämlich Ministrant gewesen war und um sechs Uhr in der Morgenmesse ausgeholfen hatte.

      Allerdings hatte er das auch im Frühling, im Sommer und im Herbst getan. Warum erinnerte er sich trotzdem immer nur an Dunkelheit, Frost, steife Finger und Winterstiefel, die eine dünne Eisschicht knacken ließen?

      Als er sich aufsetzte, stieß er wie so oft ein Glas um, und Madame Maigret machte im gleichen Augenblick die Nachttischlampe an, in dem er nach dem Telefonhörer griff.

      »Maigret … Ja …«

      Es war zehn nach vier, und wie immer, wenn es besonders kalt war, war es draußen totenstill.

      »Hier Fumel, Herr Kommissar …«

      »Wie?«

      Er konnte ihn schlecht hören. Es klang, als würde der andere durch ein Taschentuch sprechen.

      »Hier ist Fumel, vom 16. Arrondissement …«

      Der Mann sprach so leise, als hätte er Angst, vom Nebenzimmer aus belauscht zu werden. Da der Kommissar nicht antwortete, fügte er hinzu:

      »Aristide …«

      Aristide Fumel, natürlich. Maigret war jetzt endlich wach und fragte sich, warum zum Teufel Inspektor Fumel vom 16. Arrondissement ihn um vier Uhr morgens weckte.

      Und warum klang seine Stimme so geheimnisvoll und gedämpft?

      »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dass ich Sie anrufe … Ich habe sofort meinen Chef benachrichtigt. Er hat gesagt, ich soll die Staatsanwaltschaft anrufen, und dort habe ich den diensthabenden Vertreter erreicht …«

      Obwohl Madame Maigret nur die Antworten ihres Mannes hörte, stand sie schon auf, tastete mit den Fußspitzen nach ihren Pantoffeln, zog ihren wattierten Morgenmantel an und ging in die Küche, wo man gleich darauf das Gas zischen und dann Wasser in den Kessel fließen hörte.

      »Man weiß ja gar nicht mehr, wie alles ablaufen soll, verstehen Sie? Der von der Staatsanwaltschaft hat mich angewiesen, an den Tatort zurückzugehen und dort auf ihn zu warten. Nicht ich habe die Leiche entdeckt, sondern zwei Beamte auf Fahrradstreife …«

      »Wo?«

      »Wie?«

      »Ich habe gefragt, wo?«

      »Im Bois de Boulogne … An der Route des Poteaux … Wissen Sie, wo das ist? Sie geht nicht weit von der Porte Dauphine in die Avenue Fortunée über … Es handelt sich um einen Mann mittleren Alters … In meinem Alter ungefähr … Soweit ich es feststellen konnte, hat er nichts in den Taschen, keine Papiere … Natürlich habe ich die Leiche nicht angerührt … Ich weiß nicht warum, aber das Ganze kommt mir merkwürdig vor, deshalb habe ich Sie lieber angerufen … Aber die von der Staatsanwaltschaft erfahren das besser nicht …«

      »Ich danke dir, Fumel.«

      »Ich gehe jetzt zurück, manchmal kommen sie früher, als man denkt …«

      »Wo bist du?«

      »Auf dem Revier an der Fasanerie. Haben Sie vor, zu kommen?«

      Maigret zögerte, er lag immer noch in seinem warmen Bett.

      »Ja.«

      »Wie wollen Sie es erklären?«

      »Ich weiß es noch nicht. Mir fällt schon was ein.«

      Er fühlte sich gedemütigt, war fast wütend, und das nicht zum ersten Mal in den letzten sechs Monaten. Der gute Fumel konnte nichts dafür.

      »Zieh dich warm an. Es ist bitterkalt«, sagte Madame Maigret von der Türschwelle aus.

      Er schob den Vorhang beiseite und sah Eisblumen an den Fensterscheiben. Die Gaslaternen hatten diesen besonderen Schimmer, wie man ihn nur bei starker Kälte sieht. Auf dem Boulevard Richard-Lenoir war keine Menschenseele, nicht ein Geräusch war zu hören. Gegenüber brannte nur in einem Fenster Licht, vermutlich war dort jemand krank.

      Jetzt zwangen sie einen schon dazu, sich Märchen auszudenken! Sie, das war die Staatsanwaltschaft, die Leute vom Innenministerium, all diese neuen Gesetzgeber, die an den Grandes Écoles studiert und es sich in den Kopf gesetzt hatten, die Welt nach ihren Theorien neu zu organisieren.

      Die Polizei war in ihren Augen nur ein kleines Rädchen innerhalb des großen Justizapparats. Man musste ihr misstrauen, sie im Auge behalten, durfte ihr nur eine untergeordnete Rolle zugestehen.

      Fumel gehörte noch zur alten Garde, wie Janvier, wie Lucas, wie etwa ein Dutzend anderer Mitarbeiter Maigrets. Alle anderen richteten sich ganz nach den neuen Methoden und Vorschriften und büffelten, um schneller befördert zu werden, pausenlos für irgendwelche Prüfungen.

      Armer Fumel, der nie aufgestiegen war, weil er mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß stand und keine anständigen Berichte schreiben konnte.

      Man bestand darauf, dass der Staatsanwalt oder einer seiner Vertreter als Erstes benachrichtigt wurde, der vor allen anderen und in Begleitung eines noch nicht ganz wachen Untersuchungsrichters am Tatort erscheinen musste. Diese Herren hielten dann schlaue Reden, als hätten sie ihr Leben lang nichts anderes getan, als Leichen zu entdecken, und würden sich mit Kriminellen besser auskennen als irgendwer sonst.

      Was die Polizei betraf, für sie blieben allenfalls Hilfsarbeiten übrig.

      »Tun Sie dies, tun Sie das … Verhaften Sie den und den, und bringen Sie ihn mir in mein Büro …

      Aber stellen Sie ihm keine Fragen! Es muss alles nach Vorschrift laufen …«

      Vorschriften gab es unzählige. Das Journal Officiel veröffentlichte so viele verschiedene, teils widersprüchliche Gesetzestexte, dass sie sich selbst nicht mehr darin zurechtfanden. Sie lebten jetzt in der ständigen Angst, etwas falsch zu machen und damit die Einsprüche der Anwälte zu provozieren.

      Er zog sich mürrisch an. Warum schmeckte, wenn man so mitten in einer Winternacht geweckt wurde, der Kaffee anders als sonst? Auch der Geruch in der Wohnung war anders, erinnerte ihn an sein Elternhaus, wenn er um halb sechs Uhr morgens aufgestanden war.

      »Rufst du im Büro an, dass man dir einen Wagen schickt?«

      Nein! Wenn er dort in einem Dienstwagen erschien, würde man ihn dafür zur Rechenschaft ziehen.

      »Bestell mir ein Taxi.«

      Man würde ihm die Fahrtkosten nur erstatten, wenn es sich wirklich um einen Mord handelte und er in kürzester Zeit den Täter fand. Nur wenn man Erfolg hatte, wurden einem noch die Taxis bezahlt. Außerdem musste man nachweisen, dass es nicht möglich gewesen war, mit einem anderen Verkehrsmittel an den Tatort zu gelangen.

      Seine Frau reichte ihm einen dicken Wollschal.

      »Hast du deine Handschuhe?«

      Er


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