Gesammelte Werke von Guy de Maupassant. Guy de Maupassant

Gesammelte Werke von Guy de Maupassant - Guy de Maupassant


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      »O nein,« antwortete sie, »sobald hier alles zu Ende ist, fahre ich zurück.«

      »Etwa in zehn Tagen?«

      »Ja, höchstens.«

      »Hat er keine Verwandte?« fragte Duroy.

      »Keine. Nur ein paar Vettern. Sein Vater und seine Mutter sind gestorben, als er noch ganz klein war.«

      Sie schauten beide einem Schmetterling zu, der auf den Nelken seine Nahrung suchte; er flog von einer Blüte zur andern und flatterte hastig mit den Flügeln, die sich jedoch langsam bewegten, wenn er auf einer Blume saß. Sie saßen und schwiegen eine lange Zeit. Der Diener kam und teilte mit, daß »der Herr Pfarrer fertig sei«. Sie gingen zusammen hinauf. Forestier schien seit gestern noch magerer geworden zu sein.

      Der Priester reichte ihm die Hand.

      »Auf Wiedersehen, mein Sohn. Ich komme morgen früh.«

      Und er ging fort.

      Sobald er hinaus war, versuchte der Sterbende, der schwer röchelte, seine beiden Hände zu seiner Frau zu erheben und stotterte:

      »Rette mich … Rette mich … Geliebte … ich will nicht sterben … ich will nicht sterben … Oh ! Rettet mich … Sagt, was ich tun soll, holt den Arzt … Ich nehme alles ein, was er verschreibt … Ich will nicht … ich will nicht …«

      Er weinte. Große Tränen rannen aus seinen Augen über die fleischlosen Backen, und die eingefallenen Falten seines Mundes verzogen sich wie die eines betrübten kleinen Kindes.

      Und nun sanken seine Hände auf das Bett und bewegten sich hier fortwährend langsam und regelmäßig, als ob sie auf der Decke etwas suchten. Seine Frau begann nun auch zu weinen und stammelte:

      »Aber nein, es ist doch nichts. Es ist ein Anfall, morgen geht es dir besser. Du bist sehr müde von der gestrigen Spazierfahrt.«

      Forestier atmete so schnell wie ein Hund, der eben gelaufen ist. Die Atemzüge gingen so hastig, daß man sie kaum zählen konnte, und so leise, daß, man sie kaum vernehmen konnte. Er wiederholte immerfort:

      »Ich will nicht sterben … Oh, mein Gott … mein Gott … was wird mit mir? Ich werde nichts mehr sehen? Ich werde nichts mehr sehen … nichts … Niemals … Oh, mein Gott …«

      Er starrte vor sich hin und sah etwas, was für die andern unsichtbar blieb, etwas Furchtbares, denn in seinen unbeweglichen Augen spiegelte sich das entsetzlichste Grauen wieder. Seine beiden Hände fuhren mit ihrer schrecklichen, ermüdenden Gebärde fort.

      Plötzlich überfiel ihn ein furchtbarer Krampf, der seinen Körper von Kopf bis zu Fuß erbeben ließ. Er stammelte:

      »Der Kirchhof … mich … mein Gott …«

      Er sprach nichts mehr und blieb unbeweglich, verstört und röchelnd liegen.

      Die Zeit verging; die Uhr eines nahegelegenen Klosters schlug zwölf. Duroy verließ das Zimmer, um etwas zu essen. Nach einer Stunde war er wieder da. Madame Forestier wollte nichts zu sich nehmen. Der Kranke hatte sich nicht gerührt. Er fuhr noch immer mit seinen mageren Fingern über die Bettdecke, als ob er sein Gesicht berühren wollte.

      Die junge Frau saß in einem Lehnstuhl am Fuße des Bettes. Duroy nahm sich einen anderen und setzte sich neben sie; beide warteten schweigend.

      Der Arzt hatte eine Krankenwärterin geschickt; sie saß am Fenster und schlummerte.

      Duroy begann auch schläfrig zu werden, als er plötzlich das Gefühl hatte, daß etwas geschehen müßte. Er öffnete die Augen gerade noch früh genug, um zu sehen, wie Forestier die seinen wie zwei erlöschende Lichter schloß, ein kurzes Schlucken bewegte die Kehle des Sterbenden, und in den Mundwinkeln wurden zwei Blutfäden sichtbar, die dann langsam auf das Hemd herabtropften. Die Hände hörten mit ihrer schrecklichen Bewegung auf. Er atmete nicht mehr.

      Die Frau begriff, was geschehen war; sie stieß einen Schrei aus und warf sich schluchzend neben dem Bett auf die Knie. Georges machte vor Schreck und Entsetzen mechanisch das Zeichen des Kreuzes. Die Wärterin war erwacht und trat ans Bett heran.

      »Es ist vorbei«, sagte sie.

      Und Duroy, der seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte, murmelte mit einem Seufzer der Erleichterung:

      »Das hat nicht solange gedauert, wie ich dachte.«

      Als die erste Bestürzung vorüber war und die ersten Tränen geflossen waren, beschäftigte man sich mit all den Schritten, die bei einem Todesfall erforderlich sind. Duroy wurde bis in die Nacht hinein in Anspruch genommen.

      Als er heimkehrte, war er sehr hungrig. Frau Forestier aß auch ein wenig. Dann setzten sie sich beide in das Trauergemach, um an der Leiche zu wachen.

      Zwei Kerzen brannten auf dem Nachttisch neben einer Schale, in der ein Büschel Mimosen schwamm, denn den üblichen Buchsbaumzweig hatte man nirgends auftreiben können.

      Sie saßen jetzt allein, der junge Mann und die junge Frau neben ihm, der nicht mehr auf dieser Welt war. Sie sprachen kein Wort und betrachteten ihn nachdenklich.

      Georges besonders, den die Finsternis um die Leiche beängstigte, konnte den Blick nicht von ihr wenden. Seine Augen und seine Gedanken wurden angezogen und fasziniert von diesem fleischlosen Gesicht, das in dem zitternden Lichtschein der Kerzen noch hohler erschien. Das war sein Freund Charles Forestier, der gestern noch mit ihm gesprochen hatte! Wie unbegreiflich und grauenvoll war doch das Ende eines menschlichen Wesens. Oh, jetzt dachte er an die Worte Norbert de Varennes, den die Furcht vor dem Tode so quälte: »Nie kehrt ein Mensch wieder. Millionen und Milliarden ähnlicher Wesen werden geboren, die auch Augen, Nase, Mund und Schädel mit einem Gehirn besitzen, aber nie kehrt derselbe Mensch zurück, der dort ausgestreckt im Bette liegt.

      Ein paar Jahre lang hatte er gelebt, gegessen, gelacht, geliebt und gehofft, wie jeder andere. Und nun war es mit ihm zu Ende, zu Ende für immer. Was ist ein Menschenleben? Ein paar Tage und weiter nichts. Man kommt auf die Welt, man wächst heran, man wird glücklich, man wartet und dann stirbt man. Fahr wohl! Mann oder Weib, du kommst auf diese Erde nie wieder! Und doch trägt jeder in sich eine fieberhafte, unerfüllbare Sehnsucht nach Ewigkeit; und jeder ist ein kleines Weltall im großen Weltall, und versinkt doch so schnell in das ewige Nichts, um zum Nährboden für neu aufgehende Keime zu werden. Pflanzen, Tiere, Menschen, Sterne und Welten, alles lebt auf, dann stirbt es, um sich in etwas Neues zu verwandeln, und nie kehrt ein Wesen zurück; weder ein Wurm, noch ein Mensch, noch ein Planet!

      Ein dumpfes, unendliches Grauen lastete vernichtend auf der Seele Duroys, der Schrecken vor dem grenzenlosen, unvermeidlichen Nichts, das unaufhörlich jedes kurzlebige und schwache Lebewesen zerstört. Und er beugte schon die Stirn vor dieser entsetzlichen dauernden Drohung. Er dachte an die Fliegen, die ein paar Stunden leben, an die Tiere, die Tage, an die Menschen, die ein paar Jahre, und an die Welten, die ein paar Jahrhunderte leben. Welcher Unterschied besteht zwischen ihnen? Ein paar Morgenröten mehr, weiter nichts!

      Er wandte die Augen ab, um die Leiche nicht mehr sehen zu müssen.

      Madame Forestier saß mit gesenktem Kopf da und schien ebenfalls in schmerzliche Gedanken versunken zu sein. Ihre blonden Haare über dem traurigen Gesicht sahen so schön und reizvoll aus, daß eine süße Empfindung, eine aufblühende Hoffnung das Herz des jungen Mannes berührte. Warum verzweifeln, wenn man noch so viele Jahre vor sich hatte?

      Er betrachtete sie aufmerksam. Sie war von ihren Gedanken erfüllt und sah ihn nicht. Er sagte sich: »Das einzig Gute und Schöne im Leben ist: die Liebe! Ein geliebtes Weib in seinen Armen zu halten — das ist das höchste Menschenglück auf dieser Erde.«

      Welches Glück hatte der Tote gehabt, daß er eine so kluge und reizende Kameradin gefunden hatte. Wie mochten sie sich wohl kennengelernt haben? Wie war sie dazu gekommen, einen so mittelmäßigen und armen Burschen zu heiraten? Wie war es ihr gelungen, etwas aus ihm zu machen?

      Und er dachte über alle Geheimnisse nach, die im Menschenleben verborgen sind. Er erinnerte sich an alle Gerüchte über den


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