Im Schatten der Kopfweiden. Anja Wedershoven

Im Schatten der Kopfweiden - Anja Wedershoven


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      Anja Wedershoven, 1968 in Rheydt geboren, wuchs mit Schnibbelskuchen, Hanns-Dieter Hüsch und dem Schimanski-Tatort auf. Sie studierte Kulturwissenschaften und Literatur und ist als Autorin dem Niederrhein treu geblieben. Am Kriminalroman faszinieren sie die Auseinandersetzung mit Menschen in Ausnahmesituationen und die Frage, welche Vorgeschichte Gewalttaten haben.

      Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

      © 2020 Emons Verlag GmbH

      Alle Rechte vorbehalten

      Umschlagmotiv: shutterstock.com/Peter Nolten

      Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

      Umsetzung: Tobias Doetsch

      Lektorat: Lothar Strüh

      E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

      ISBN 978-3-96041-687-6

      Niederrhein Krimi

      Originalausgabe

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      There are voices still calling across the years.

      And they’re all crying across the ocean,

      And they’re cryin’ across the land,

      And they will till we all come to understand.

      Solomon Burke,

      »None of us are free«

      Prolog

      Der quälende Husten hatte für kurze Zeit aufgehört, und sie war erschöpft eingeschlafen. Jetzt weckte sie das Schlagen der Wohnungstür. Manni!

      »Ich hab Hunger. Haste nix gekocht?«, brüllte er mit schwerer Zunge. Das Baby begann zu schreien. Etwas fiel polternd um.

      Kira schreckte in ihrem Bett hoch und sah sie mit aufgerissenen Augen an.

      »Pscht.« Sie legte einen Finger an die Lippen. Unterdrückte ihren Hustenreiz. Die großen braunen Augen ihrer kleinen Schwester wirkten im Dämmerlicht des Raums wie tiefe schwarze Seen. Hoffentlich konnten sich ihre Brüder in Sicherheit bringen.

      Sie setzte sich auf, ihr Gesicht glühte. Von der Bettkante aus öffnete sie leise die Zimmertür einen Spalt und spähte durch den vollgestellten Flur ins Wohnzimmer.

      Der Freund ihrer Mutter zog sich die Jacke aus, ließ sich aufs Sofa fallen. Ihre Mutter hatte das Baby auf dem Arm. Ging schwankend auf und ab. Auch sie hatte getrunken.

      »Bei der gestrigen Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm erschossen Mitglieder der RAF zwei Geiseln.« Die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Fernseher klang ernst. Die Welt ist ein Ort voller Gewalt, dachte sie.

      »Wir müssen ins Bad«, wisperte sie ihrer Schwester zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Manni zuschlagen würde. Als sie vom Bett aufstand, hämmerte ihr Herz gegen die Rippen. Das Atmen tat weh. Bloß nicht husten. Dann würde er auf sie aufmerksam werden. Sie rang nach Luft. Kira drängte sich an sie und nahm ihre Hand. Vorsichtig öffnete sie die Zimmertür einen Spalt.

      »Gib dem Blag endlich seine verdammte Milch. Und mir was Gescheites zu essen.« Manni fegte eine Reihe leerer Bierflaschen und den Aschenbecher vom Tisch. Ihre Mutter sprach so leise, dass sie sie nicht verstehen konnte.

      »Schnell«, wisperte sie Kira zu. Auf dem Weg vom Mädchenzimmer ins Bad schob sich auch Martins klebrige Hand in ihre. Sie zog beide Geschwister ins Badezimmer und schloss ab. Dann lehnte sie sich keuchend mit dem Rücken gegen die Tür. Kira versteckte sich sofort in der Dusche. Nur ihre kleine dunkle Faust, die den Vorhang zuhielt, war noch zu sehen.

      »Wo ist Michi?«, flüsterte sie Martin zu, als sie wieder zu Atem gekommen war. Ihre Hände glühten, über ihren ganzen Körper lief Schweiß. Diese Erkältung wollte nicht besser werden. Schon eine Woche konnte sie sich nicht um die Geschwister kümmern. Ihre Brüder waren nicht mehr zur Schule gegangen, Kira nicht in den Kindergarten.

      »Michi ist draußen«, erklärte Martin von seinem Platz unter dem Waschbecken. »Er wollte einkaufen gehen.«

      »Ich hab so Hunger«, klagte die Stimme ihrer Schwester hinter dem Duschvorhang.

      Einkaufen? Sie runzelte die Stirn. Die Geschäfte hatten längst zu. Außerdem hätte ihre Mutter ihm niemals Geld gegeben. Wollte er Essen stehlen? Dann musste der Hunger groß sein. Ihr Blick fiel in den Spiegel über dem Waschbecken, und sie erschrak. Stirn und Wangen waren krebsrot und von kleinen Pusteln übersät, ihre Haare klebten fettig am Kopf. Sie zog das Nachthemd enger über den kleinen Wölbungen zusammen, die sich seit ein paar Wochen auf ihrer Brust zeigten und auf die Manni schon begehrliche Blicke geworfen hatte. Die Türklinke in ihrem Rücken bewegte sich, sie erschrak.

      »Ey!« Er trommelte mit Fäusten gegen die Tür. »Mach auf, ich muss pissen.«

      Martin zog den Kopf noch weiter unter das Waschbecken zurück und wimmerte leise. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag bis zum Maximum beschleunigte und der Schmerz in ihrem Brustkorb zunahm. Lange würde sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können.

      »Bin gleich fertig, Papa.« Sie sank auf den Rand der Badewanne. Ihre heisere Stimme klang fremd. Wie viele Männer hatte sie schon »Papa« nennen müssen? Nur bei Kiras Vater, dem »Neger«, wie die Nachbarn abfällig getuschelt hatten, hatte sie sich gewünscht, er möge bleiben. Er war der Einzige gewesen, der nicht geprügelt hatte.

      »Das Blag soll aufhören zu brüllen!« Gott sei Dank, Mannis Stimme kam wieder aus dem Wohnzimmer. Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, schob sich auf Knien zur Badezimmertür und zog den Schlüssel ab. Dann presste sie ein Auge gegen das Schlüsselloch. Sah Manni von hinten neben dem Fernseher stehen. Konnte nur ahnen, dass er gerade seine Hose öffnete und irgendwo reinpinkelte. Als er fertig war, baute er sich vor ihrer Mutter auf. »Gib her! Ich bring ihn raus.«

      Das Baby! Nach dem letzten Saufgelage hatte er es unter kaltes Wasser gehalten, bis ihre Mutter ihn auf Knien angefleht hatte, dem Kind nichts zu tun. Dann hatte sie im Wohnzimmer vor dem Kleinen die Beine für Manni breitgemacht. Widerlich!

      Jetzt schrie er den Säugling an. »Sei endlich still!« Ihre Mutter kreischte. Was machte Manni mit dem Kleinen?

      Sie mussten weg hier. Mit dem Baby. »Wir gehen zu Francesco. Mama hat mir Geld für Süßigkeiten gegeben«, log sie. Francesco gehörte der Kiosk in der Hochhaussiedlung. Der hatte bis spätabends auf. Vielleicht konnte der nette Italiener ihnen helfen. Sie zog sich am Rand des Waschbeckens hoch. Nur noch ein paar Minuten durchhalten.

      Kira schaute aus einem Spalt zwischen Vorhang und Fliesen hervor. »Süßigkeiten?«

      »Ja.« Sie nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und zog den Duschvorhang beiseite. »Aber wir müssen uns beeilen, sonst macht Francesco zu.«

      Kira nickte und kletterte aus der Duschtasse.

      »Martin, du bist doch stark.« War ein Achtjähriger wirklich kräftig genug, den Säugling zu tragen? »Du nimmst das Baby, und dann lauft ihr so schnell wie möglich nach unten. Nehmt die Treppen. Der Aufzug ist bestimmt wieder kaputt.«

      »Und was ist mit Papa?« Martins Stimme klang kläglich. Kiras große Augen sahen voller Angst zu ihr hoch.

      »Ich halte Papa auf, bis ihr unten seid.« Sie hatte keine Ahnung, wie sie das machen sollte, wollte nicht darüber nachdenken. »Und dann lauft ihr zu Francesco.«

      »Und du?«

      »Ich komme nach.«

      Zitternd schloss sie die Tür auf. Ihre Mutter hatte sich aufgerappelt und hielt ihrem Freund eine halb volle Flasche Bier hin, um ihn zu besänftigen.

      »So


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