Maigret und das Gespenst. Georges Simenon

Maigret und das Gespenst - Georges  Simenon


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       Der 62. Fall

      Georges Simenon

      Maigret und das Gespenst

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

      Kampa

      1 Die seltsamen Nächte des Inspektor Lognon und Solanges Leiden

      Es war kurz nach ein Uhr nachts, als das Licht in Maigrets Büro ausging. Der Kommissar, dem vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, öffnete die Tür zum Büro der Inspektoren, in dem der junge Lapointe und Bonfils Dienst taten.

      »Gute Nacht, Kinder«, murmelte er.

      In dem breiten Flur fegten die Putzfrauen, und er winkte ihnen rasch zu. Wie immer um diese Zeit zog es hier, und das Treppenhaus, durch das er mit Janvier hinunterging, war eisig und feucht.

      Es war Mitte November. Den ganzen Tag hatte es geregnet. Seit acht Uhr morgens war Maigret nicht aus seinem überheizten Büro herausgekommen, und ehe er den Hof betrat, schlug er seinen Mantelkragen hoch.

      »Soll ich dich irgendwo absetzen?«

      Ein telefonisch bestelltes Taxi wartete vor dem Portal am Quai des Orfèvres.

      »An irgendeiner Metrostation, Chef.«

      Es regnete in Strömen, und das Wasser spritzte vom Pflaster hoch. Der Inspektor stieg am Châtelet aus.

      »Gute Nacht, Chef.«

      »Gute Nacht, Janvier.«

      Es war ein Augenblick, wie sie ihn schon Hunderte von Malen zusammen erlebt hatten, ein Augenblick, in dem sie beide die gleiche ein wenig trübe Befriedigung spürten.

      Wenige Minuten später ging Maigret leise die Treppe am Boulevard Richard-Lenoir hinauf, holte den Schlüssel aus seiner Tasche, drehte ihn vorsichtig im Schloss und hörte gleich darauf, wie Madame Maigret sich im Bett umdrehte.

      »Bist du’s?«

      Auch das hatte er schon Hunderte oder gar Tausende Male erlebt: Wenn er mitten in der Nacht nach Hause kam, stellte sie ihm mit verschlafener Stimme diese Frage, tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe, setzte sich im Nachthemd auf und warf ihrem Mann einen Blick zu, um zu sehen, wie seine Laune war.

      »Ist es vorbei?«

      »Ja.«

      »Der Junge hat endlich ausgepackt?«

      Er nickte.

      »Hast du Hunger? Soll ich dir nicht etwas zu essen machen?«

      Er hatte seinen feuchten Mantel an den Garderobenständer gehängt und löste seine Krawatte.

      »Ist noch Bier im Kühlschrank?«

      Beinahe hätte er das Taxi an der Place de la République halten lassen, um in einer noch geöffneten Brasserie ein Bier zu trinken.

      »War es so, wie du gedacht hast?«

      Ein banaler Fall, soweit man einen Fall, der das Schicksal mehrerer Menschen betrifft, banal nennen kann. Die Zeitungen hatten eine Sensation daraus gemacht, unter der Schlagzeile Die Motorradgang.

      Beim ersten Mal hatten am helllichten Tag in der Rue de Rennes zwei Motorräder vor einem Juwelier gehalten. Zwei Männer waren vom ersten und einer vom zweiten abgestiegen; sie hatten sich rote Schals vors Gesicht gebunden, waren in dem Laden verschwunden und wenige Augenblicke später, jeder eine Pistole in der Hand, mit Schmuckstücken und Uhren herausgekommen, die sie im Schaufenster und auf der Theke zusammengerafft hatten.

      Die Menge draußen hatte zunächst nicht reagiert, und als ein paar Autofahrer, nachdem sie sich von dem ersten Schock erholt hatten, die Verfolgung aufnahmen, war es zu einem solchen Verkehrschaos gekommen, dass die Täter hatten flüchten können.

      »Sie werden es noch mal versuchen«, hatte Maigret vorausgesagt.

      Die Beute war mager gewesen, denn in dem Geschäft, das von einer Witwe geführt wurde, gab es nur Billigware.

      »Die wollten ihre Methode erproben.«

      Nie zuvor waren Motorräder bei einem Überfall zum Einsatz gekommen.

      Der Kommissar täuschte sich nicht. Denn schon drei Tage später spielte sich die gleiche Szene ab. Diesmal bei einem Luxusjuwelier am Faubourg Saint-Honoré. Das Resultat war das gleiche, mit dem Unterschied, dass die Banditen Schmuck im Wert von mehreren Millionen alter Franc ergatterten, im Wert von zweihundert Millionen, wie die Zeitungen schrieben, während die Versicherung den Schaden auf hundert Millionen schätzte.

      Allerdings hatte einer der Diebe auf der Flucht seinen Schal verloren, und man verhaftete ihn zwei Tage später in einer Schlosserei in der Rue Saint-Paul, wo er arbeitete.

      Am selben Abend saßen alle drei hinter Schloss und Riegel. Der Älteste war zweiundzwanzig Jahre alt, der Benjamin, Jean Bauche, genannt Jeannot, hatte gerade erst das achtzehnte Lebensjahr erreicht. Ein blonder, langhaariger Junge, Sohn einer Putzfrau aus der Rue Saint-Antoine, und ebenfalls in der Schlosserei beschäftigt.

      »Wir haben uns den ganzen Tag abgelöst, Janvier und ich«, sagte Maigret mit mürrischer Stimme zu seiner Frau, während er Bier trank und Sandwiches aß.

      ›Hör mal, Jeannot. Du markierst hier den starken Mann. Sie haben dir eingeredet, du seist einer. Aber die Idee mit den Überfällen ist nicht von dir und auch nicht von deinen beiden Kumpels. Da steckt jemand anders dahinter, jemand, der das alles eingefädelt hat und darauf bedacht war, sich die Finger nicht schmutzig zu machen. Er ist vor zwei Monaten aus dem Gefängnis Fresnes entlassen worden und will nicht wieder dahin zurück. Gib zu, er war ganz in der Nähe, in einem gestohlenen Auto, und hat eure Flucht gedeckt, indem er absichtlich ungeschickt durch den dichten Verkehr manövriert hat …‹

      Maigret zog sich aus, trank hin und wieder einen Schluck Bier und erstattete seiner Frau in knappen Worten Bericht.

      »Solche Burschen sind sehr zäh … Man hat ihnen ein besonderes Ehrgefühl eingeimpft …«

      Er hatte drei Wiederholungstäter verhaften lassen, darunter einen gewissen Gaston Nouveau. Wie nicht anders zu erwarten, hatte der ein stichhaltiges Alibi: Zwei Personen gaben an, zum Zeitpunkt des Überfalles habe Nouveau sich in einer Bar in der Avenue des Ternes aufgehalten.

      Stundenlange Gegenüberstellungen hatten nichts ergeben. Der älteste der drei Motorradfahrer, Victor Sidon, wegen seiner Körperfülle der Dicke genannt, blickte den Kommissar spöttisch an, während Saugier, Kanone genannt, unter Tränen beteuerte, er wisse von nichts.

      »Janvier und ich haben uns auf den jungen Bauche konzentriert. Wir haben seine Mutter kommen lassen. Sie hat ihn angefleht:

      ›So gesteh doch, Jeannot! Du siehst ja, dass die Herren dir nichts Böses wollen. Sie verstehen, dass man dich da in etwas hineingezogen hat …‹«

      Zwanzig unangenehme Stunden, in denen sie dem Jungen unbarmherzig zugesetzt hatten. Mindestens ebenso unangenehm war es gewesen, seinen Widerstand plötzlich zusammenbrechen zu sehen.

      ›Na gut, ich werde alles sagen. Ja, es ist Nouveau, der uns im Lotus aufgetan und für seinen Plan gewonnen hat …‹

      Eine kleine Bar in der Rue Saint-Antoine, wo junge Männer und Mädchen den Klängen der Musikbox lauschten.

      ›Wenn ich aus dem Gefängnis herauskomme, werden mich seine Leute umbringen, und das nur Ihretwegen.‹«

      Nun denn, das Tagwerk war vollbracht. Maigret legte sich mit schwerem Kopf schlafen.

      »Wann musst du im Büro sein?«

      »Um neun.«

      »Kannst du nicht etwas länger schlafen?«

      »Weck mich um acht.«

      Es gab sozusagen keinen Übergang. Er hatte das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben.


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