Die Unsichtbaren. Roy Jacobsen

Die Unsichtbaren - Roy Jacobsen


Скачать книгу

      Roy Jacobsen

      Die Unsichtbaren

      Roman

      Aus dem Norwegischen von

      Gabriele Haefs und

      Andreas Brunstermann

      Saga

      1

      An einem windstillen Tag im Juli steigt der Rauch senkrecht empor. Pastor Johannes Malmberget wird auf die Insel hinausgerudert und vom Bauern und Fischer Hans Barrøy empfangen, dem rechtmäßigen Besitzer der Insel und Oberhaupt der einzigen dort lebenden Familie. Er steht auf dem Anleger, den seine Vorfahren aus Ufersteinen errichtet haben, und betrachtet das ankommende Boot, die gebogenen Rücken der beiden Ruderer und, hinter ihren schwarzen Schiebermützen, das lächelnde und frisch rasierte Gesicht des Pastors. Als sie nahe genug herangekommen sind, ruft er: »Sieh an, da komm’ ja feine Leut’.«

      Der Pastor steht auf und lässt den Blick über das Ufer gleiten, über die Wiesen, die sich zu der kleinen Ansammlung von Holzhäusern hinaufziehen, er lauscht dem Geschrei der Möwen, die auf jedem Fels ihr gänseartiges Quack-Quack ertönen lassen, er lauscht den Seeschwalben und den herumstolzierenden Austernfischern, die im scharfen Sonnenlicht ihre Schnäbel in die weißen Strände bohren.

      Als er das Boot verlässt und mit unsicheren Schritten den Steg erklimmt, entdeckt er, was er noch nie zuvor gesehen hat; seine eigene Heimat am Fuße der Felsen auf der Hauptinsel, wie sie von Barrøy betrachtet aussieht, die Handelsstation und die Schuppen, die kleinen Höfe, die Wäldchen und die Boote.

      »Nicht zu glauben, wie klein das ist. Die Häuser sind ja kaum zu sehen.«

      Hans Barrøy erwidert: »Ach, ich kannse gut sehn.«

      »Du hast wohl bessere Augen als ich«, sagt der Pastor und starrt hinüber zu der kleinen Gemeinde, in der er seit dreißig Jahren seinem Amte nachgeht, die er jedoch noch nie zuvor von solch einem irrsinnigen Standort betrachtet hat.

      »Ja, Ihr seid hier noch nie gewesen«, sagt Hans Barrøy.

      »Es sind auch zwei Stunden zu rudern.«

      »Ihr habt doch wohl Segel.«

      »Heute ist es ja ganz windstill«, sagt der Pastor und hält den Blick auf die Heimat gerichtet, denn die Wahrheit ist, dass er Angst vor dem Meer hat und nun ganz ergriffen und aufgeregt ist, nachdem er die friedliche Überfahrt überstanden hat.

      Die Ruderer haben ihre Pfeifen hervorgeholt, sitzen abgewandt von den anderen da und rauchen. Endlich kann der Pastor Hans Barrøy die Hand geben und entdeckt im selben Moment den Rest der Familie, die ihm von den Häusern entgegenkommt, Hans’ alten Vater, Martin, der seit dem Tod seiner Frau vor fast zehn Jahren Witwer ist, Hans’ unverheiratete und viel jüngere Schwester Barbro. Und die Herrscherin der Insel, Maria, die die dreijährige Ingrid an der Hand hält, alle im Sonntagsstaat, wie der Pastor zufrieden feststellen kann, sie haben das Boot wohl schon entdeckt, als es Oterholmen umrundete, jetzt nur noch ein schwarzer Hut im Meer, dort im Norden.

      Er geht der kleinen Schar entgegen, die jetzt stehen geblieben ist, mit gesenkten Köpfen, den Blick auf das Gras gerichtet, und reicht einem nach dem anderen die Hand, keiner wagt es, zu ihm aufzusehen, nicht einmal der alte Martin, er hat die rote Mütze abgenommen, und schließlich Ingrid, die, wie der Pastor bemerkt, saubere, weiße Hände hat, nicht einmal Trauerränder unter den Nägeln, die auch nicht abgebissen sind, sondern kurz geschnitten, und dann die kleinen Grübchen, unter denen die Knochen nach und nach hervortreten werden.

      Er hält dieses kleine Wunderwerk fest und denkt, dass es sich schon bald in eine hart arbeitende Frauenhand verwandelt, eine sehnige, erdfarbene und schwielige Hand, die Hand eines Mannes, dieses Holzstück, zu dem früher oder später alle Hände hier draußen werden, er sagt: »Schau an, da ist ja die Kleine, sag mir, glaubst du an Gott?«

      Ingrid antwortet nicht.

      »Natürlich tut se das«, sagt Maria, die Erste, die den Gast direkt anblickt. Doch in diesem Moment macht der Pastor dieselbe Entdeckung noch einmal und geht eiligen Schrittes am Bootshaus vorbei, das wie eine Stufe in die Landschaft eingefügt ist, und hinauf auf eine Anhöhe mit noch besserer Aussicht.

      »Donnerkeil, jetzt sehe ich auch den Pfarrhof.«

      Hans Barrøy tritt an ihm vorbei und sagt: »Und von hier aus seht Ihr die Kirche.«

      Der Pastor eilt ihm nach, bleibt stehen und bewundert die weiß gekalkte Kirche, die wie eine ausgebleichte Briefmarke unterhalb der schwarzen Felsen zum Vorschein kommt, auf denen die letzten Schneeflächen leuchten, wie Zähne in einem verfaulten Maul.

      Sie gehen weiter hinauf und reden über Taufen und Fischfang, und Daunen, und der Pastor ist regelrecht erheitert angesichts der Insel, die von zu Hause aus betrachtet einem schwarzen Stein am Horizont ähnelt, sich jedoch als der grünste Garten erweist, wie er in Gottes Namen einräumen muss, so wie vermutlich viele der Inseln hier draußen, mit nur einer oder zwei Familien, Stangholmen, Sveinsøya, Lutvær, Skarven, Måsvær, Havstein, auf jeder eine Handvoll Menschen, die eine dünne Schicht aus Erde beackern und in der Tiefe des Meeres fischen und Kinder gebären, die aufwachsen und dieselbe Erde beackern und in derselben Tiefe fischen; dies ist keine unfruchtbare und karge Küste, sondern eine Perlenschnur und Goldkette, wie er in seinen beseeltesten Predigten zu unterstreichen pflegt. Die Frage ist, wieso kommt er nicht öfter hierher?

      Und die Antwort ist das Meer.

      Der Pastor ist eine Landratte, und nur wenige Tage des Jahres sind so ruhig wie dieser, auf den er den ganzen Sommer lang gewartet hat. Doch als er hier am Fuße einer grasbewachsenen Scheunenrampe steht und auf seinen ewigen Pfarrbezirk blickt, wo Gott schon seit dem Mittelalter standgehalten hat, wird ihm plötzlich klar, dass er nicht wusste, wie er aussieht, bis jetzt, es ist geradezu verstörend, als hätte er in all diesen Jahren einen Schleier vor den Augen gehabt oder wäre Opfer eines lebenslangen Schwindels gewesen, nicht nur, was die Größe seiner Pfarrgemeinde betrifft, sondern womöglich auch sein geistiges Wirken, ist das wirklich nicht größer?

      Glücklicherweise ist der Gedanke mehr beunruhigend als bedrohlich, eine Metaphysik des Meeres, bei der alle Abstände lügen, und er ist kurz davor, wieder abzuschweifen, aber da kommt die Familie, der Alte hat jetzt die Mütze auf dem Kopf, gleich hinter ihm die hochgewachsene Maria und die robuste Barbro, die der Pastor seinerzeit nicht konfirmieren konnte, aus verschiedenen und ungeklärten Gründen, Gottes wortkarge Kinder auf einer Felseninsel im Meer, die sich also als ein Juwel erweist.

      Er bespricht die bevorstehende Taufe mit ihnen, die Taufe der dreijährigen Ingrid, mit dem langen, pechschwarzen Haar und den glänzenden Augen und den Füßen, die vor Oktober wohl kaum in einem Paar Schuhe stecken werden; wo hat sie nur die Augen her, denen die träge Dummheit der Armut gänzlich fehlt?

      Im selben euphorischen Atemzug erwähnt er, dass er Barbro bei der Taufe gern singen hören würde, sie hat doch eine schöne Stimme, soweit er sich erinnert ...?

      Eine gewisse Verlegenheit breitet sich in der Familie aus.

      Hans Barrøy nimmt den Pastor beiseite und erklärt, dass Barbro wohl eine Stimme hat, ja durchaus, doch dass sie die Wörter dieser Choräle nicht kennt, nur die Töne singt, und das war auch der Grund, aus dem sie seinerzeit nicht konfirmiert wurde, abgesehen von einigen anderen Ursachen, wie der Pastor sicher noch weiß.

      Johannes Malmberget lässt es dabei bewenden, es gibt allerdings noch eine Frage, die er mit Hans Barrøy zu erörtern wünscht, es geht um die kryptische Grabinschrift, die ihn bekümmert, seit Hans’ Mutter dort begraben wurde, ein Vers auf ihrem Stein, gemäß ihrem eigenen Wunsch, der eignet sich nicht für einen Grabstein, er ist zweideutig und predigt nahezu, dass das Leben nicht lebenswert ist. Doch als Hans auch hierauf nichts Besonderes erwidert, kommt der Pastor wieder auf die Daunen zu sprechen und fragt, ob sie welche zu verkaufen haben, er braucht zwei neue Federbetten für sein Haus und bezahlt mehr, als sie auf dem Markt oder von der Handelsstation bekommen würden, Daunenschwere ist Goldschwere, wie man hier draußen sagt ...

      Endlich haben sie etwas Handfestes und Greifbares zu besprechen und betreten das Wohnhaus, wo Maria in der guten Stube eine Tischdecke


Скачать книгу