FILM-KONZEPTE 60 - Roy Andersson. Группа авторов
FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 60 · Oktober 2020
Roy Andersson
Herausgeberin: Fabienne Liptay
Print ISBN 978-3-96707-433-8
E-ISBN 978-3-96707-435-2
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Studio 24, Roy Andersson: ÜBER DIE UNENDLICHKEIT (2019)
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Fabienne Liptay
Von Tieren, Viren und Menschen. Anstelle eines Vorworts
Thomas Koebner
Der melancholische Satiriker. Roy Anderssons Trilogie SONGS FROM THE SECOND FLOOR, YOU, THE LIVING und EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH
Philipp Schulte Von Kristallkugeln, Ratten und Menschen. Inszenatorische Strategien der Angleichung von Menschlichem und Dinglichem in Roy Anderssons »Du levande«-Trilogie
Klaus Müller-Wille Wache Träume. Roy Andersson und August Strindbergs Oneiropoetik
Laura Walde Brevitas et gravitas. Gedankenskizze zu Kürze und Knappheit bei Roy Andersson
Ursula Lindqvist Die unerschöpfliche Menschlichkeit des Kinos von Roy Andersson
Jon Asp im Gespräch mit Roy Andersson Einsam und visionär
Biografie
Werkverzeichnis
Autor*innen
Fabienne Liptay
Von Tieren, Viren und Menschen
Auf den Gemälden von Pieter Bruegel d. Ä., darunter Die Jäger im Schnee (1565), sind immer wieder Vögel zu sehen, die auf Bäumen sitzen und von dort herabschauen auf das alltägliche Treiben der Menschen, das auch ein Treiben in der Geschichte ist. Was mögen die Vögel wohl über dieses Leben denken? Roy Anderssons Film mit dem wunderbar langen Titel EN DUVA SATT PÅ EN GREN OCH FUNDERADE PÅ TILLVARON (EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH, 2014) ist ein solches Gedankenspiel, ein humanistisches Szenario aus der Perspektive der Tiere. Bei Andersson haben die Tiere, die bei Bruegel als Jagdbeute der Bauern ins Bild gesetzt werden, ihr Leben bereits gelassen, die Taube sitzt auf einem Zweig in der Ausstellungsvitrine des Naturkundemuseums, dessen bleiche Besucher kaum lebendiger wirken als die ausgestopften Tiere, die sie betrachten. Zwischen den Vitrinen mit den präparierten Tierkörpern und Skeletten ausgestellt wird nicht zuletzt der Ort der Menschen in der Welt, deren Gesten der Unterwerfung und Beherrschung der Natur hier eingehegt werden vom Wissen um die Eingemeindung in alles endliche Leben.1
EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH
Andersson erklärte diese und andere Effekte mortifizierender Blicke als Ausdruck seiner Vorliebe für das malerische Tableau, die seine Filme in verdichtete Bilder der Geschicke einer universellen Menschheit verwandelt, schwebend zwischen Animismus und Stillstellung. Stets ist die Kamera unbewegt, das Leben in ihrem Blick verlangsamt oder wie eingefroren. Bei aller Stilisierung, die diese eigenwilligen und unverwechselbaren Bilder kennzeichnet, sind sie immer auch von konkreter historischer Erfahrung gezeichnet, vielfach von der Erfahrung erlittener, aber auch ausgeübter Gewalt und Gräueltaten.
In einer anderen Szene des Films, aus einem mit »homo sapiens« überschriebenen Kapitel, sind es wir als Zuschauer, die ein Tier betrachten, einen Affen, an dem Tierversuche im Labor durchgeführt werden. Der Blick des Tieres, dessen Körper in einem Metallgestell aufgespannt ist, ist uns zugewendet, während eine Frau im Laborkittel sich abwendet. Sie schaut aus dem Fenster und telefoniert, wie so viele der Figuren im Film, die formelhaft bekunden, dass sie sich freuen zu hören, dass es den anderen gut geht, während sie, achtlos oder unberührt, einem grausamen Schauspiel beiwohnen. Nur wir bezeugen den Schmerz des Affen, den Stromschläge in regelmäßigen Zeitabständen durchfahren. Dabei können wir die Frage, was er wohl denken mag, gar nicht mehr angemessen stellen, denn das Sinnieren über die Gegenstände unserer Betrachtung wird durchkreuzt von der Agonie des gehirnverkabelten Affen.
EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH
Das Bild der Forschung am Affen verweist zurück auf ein früheres Projekt von Andersson, den unvollendet gebliebenen Kurzfilm SOMETHING HAPPENED (NÅGONTING HAR HÄNT, 1987, erstmals 1993 öffentlich gezeigt), der als Aufklärungsfilm über AIDS entstand. Die Nationale Behörde für Gesundheit und Wohlfahrt in Schweden, die den Film zur Unterrichtung von Schülern und Wehrpflichtigen in Auftrag gegeben hatte, zog sich vor der Fertigstellung aus dem Projekt zurück, weil es wissenschaftliche Erklärungen vom Ursprung des Virus in Afrika als kolonialen Mythos der weißen westlichen Welt präsentierte. Der Film nimmt Anstoß am Bild der grünen Meerkatze, das in Schweden zur Aufklärung der Öffentlichkeit über AIDS zirkulierte, um die allgemein anerkannte Theorie zu illustrieren, dass sich der Virus von Affen, die in Afrika zum Verzehr gejagt wurden, auf den Menschen übertragen habe und nun die westliche Welt bedrohe. »People felt guilty and looked for scapegoats. They found them in minorities, outsiders, and in other races.«2
In einem Essay, den Roy Andersson im März 1989 in der Tageszeitung Dagens Nyheter publizierte, wirft er Schwedens führenden Epidemiologen vor, die Fotografie eines Afrikaners, der eine grüne Meerkatze in die Kamera hält, zu verbreiten, ohne zugleich auch Bilder der eigenen Forschung an der grünen Meerkatze im Labor zu zeigen.3 Sein Essay ist eine Replik auf einen Artikel von Lennart Philipson, einem damals an der Uppsala Universität tätigen Virologen, der die Medien dafür kritisierte, falsche Gerüchte über die gentechnologische Produktion des Virus in amerikanischen Militärlabors zu verbreiten.4 Anderssons Replik wäre sicherlich missverstanden, würde man sie lediglich als