Die Enkelin. Channah Trzebiner

Die Enkelin - Channah Trzebiner


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war voll mit Schokoladentafeln. Opa konnte keine Schokolade essen, weil er Diabetes hatte. Anna gehörte eine halbe Schublade. Sie enthielt ausschließlich Wurst, die Anna an ihre Enkel in ein polnisches Dorf verschickte. Ich fragte mich, ob das der Unterschied zwischen den Polen und den Juden war. Wir brauchen Schokolade für die Nerven und sie Wurst, um die kalten Winter mit ausreichend Fett zu überstehen.

      Es lagen mindestens immer um die sechzig Tafeln in meiner Schublade. Ich durfte mir immer zwei aussuchen. »Welche wilst di nemen?«

      Ich zeigte dann meistens auf die Kinderschokolade und Opa überreichte sie mir feierlich, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz. Irgendwie war es das auch für mich. Ich wusste, was an der Schokolade hing. Ich wusste, dass er das erste Drittel des Lebens zu arm gewesen war, um sich Schokolade leisten zu können, die Mitte seines Lebens hatte er in Ghettos und in Auschwitz verbracht, und das letzte Drittel seines Lebens hatte er so viel gegessen, um den Hunger zu stillen, der nie aufhörte, dass er Zucker bekommen hatte und daher auf alle Süßigkeiten verzichten musste. Deswegen wollte er, dass ich die Schokolade genießen konnte.

      Opa war ein treusorgender Ehemann. In den zwölf Jahren, in denen meine Oma Alzheimer hatte, zeigte sich sein ganzer Respekt, seine ganze Liebe zu seiner Frau. Trotz ihrer geistigen Abwesenheit sprach er mit ihr so wie früher, als sie bei klarem Verstand war. Er kochte Omas Lieblingsspeisen und kaufte ihr Kleider, die sie geliebt hätte. Bunte blumige Kleider mit tiefem Ausschnitt.

      Opa hütete sie Tag für Tag. Er machte keinen Unterschied, ob Oma krank oder gesund war. Das alles hatte nichts damit zu tun, dass er Omas Pflegerinnen mal an den Po oder an den Busen griff.

      Wenn wir nicht hinschauten, küsste er die jeweilige Pflegerin auf den Mund. Am liebsten die dickliche Anna, mit der er regelmäßig einkaufen ging. Opa sah anderen Frauen so selbstverständlich hinterher und herzte den jeweiligen Körperteil, der ihm gerade ins Auge stach, dass mir das in der jeweiligen Situation ganz normal vorkam.

      Sogar einige von Mamas Freundinnen, die regelmäßig mit uns Schabbat feierten, wurden von ihm überrascht, gepackt und geküsst. Nach einiger Zeit küssten sie ihn verstohlen und mädchenhaft sogar freiwillig auf den Mund. Opa war irgendwie der Pate, er nahm sich, was er brauchte. Er nahm es sich so selbstverständlich und ohne Diskussion, dass keiner sein Verhalten je anzweifelte.

      Opa kategorisierte meine Freundinnen in die grobe (die Dicke), die dare (die Dünne), die mise (die Hässliche). Ich glaube, mehr als ihren Körper hat er nicht gesehen.

      SOMMER IN LITTLE OLD YAFFA

      Ich war fünfzehn, als ich mit Zoé und Mama einen weiteren Sommer in Israel verbrachte. Bevor wir meine Tante und meinen Opa besuchten, flogen wir erst nach Eilat und gönnten uns einen »Erlebnisurlaub« zu dritt.

      Es waren jetzt vier Jahre nach Papas Tod vergangen. In Eilat ritten wir auf Kamelen in der Wüste, gingen ins Unterwassermuseum, und ab und zu aßen wir sogar zwei Mahlzeiten zusammen. Manchmal strich Mama sich über den Bauch, als hätte sie Schmerzen. Wenn ich sie darauf ansprach, wedelte sie abwehrend mit der Hand: «Es ist nichts«. Wir waren glücklich und die Sonne wärmte unsere Knochen.

      Nach vier Tagen Eilat flogen wir nach Tel Aviv zu Rachel.

      Nachdem meine Tante und mein Opa das sechste Mal von Deutschland nach Israel gezogen waren, wollte Rachel die Wohnung in Tel Aviv endlich modernisieren. Opa war in Deutschland geblieben.

      Dieses Projekt sollte sehr lange andauern.

      Rachel ließ die Wohnung komplett umbauen. Sie hatte bei den Großeltern meiner Freunde einen Marmorboden gesehen, der jetzt unbedingt in der Diele verlegt werden musste.

      Mama wusste wahrscheinlich, in welchem Zustand sich die Wohnung befand. Wir wohnten nicht in der Wohnung, sondern im Carlton Hotel. Das war ein völlig neues Gefühl für mich. Ich hatte mich sonst in Israel zu Hause gefühlt. Jetzt war ich eher eine Touristin.

      Ohne Frühstück, ohne uns einzucremen, und nach einigen Zigaretten brachen Mama, Zoé und ich zu Rachels Wohnung auf. Mama nahm ein paar Advil wegen angeblicher Kopfschmerzen. Ich wusste, sie hatte Magenschmerzen.

      Wir gingen von der Ben-Yehuda-Straße aus auf die Wohnung meiner Großeltern zu. Es war sehr heiß an diesem Tag, Es wurde für heute Chamsim, der Wüstenwind, angekündigt. Schon vor zehn Uhr waren es 30 Grad. Ich freute mich darauf, meine Tante wiederzusehen.

      Um an die Klingel der Haustüre zu kommen, muss man um das Haus herumlaufen. Dabei fiel mir auf, dass die Trisim, die Rollläden, zugezogen waren. Die Rollläden in Israel sind dünner als in Deutschland und werden außen angebracht.

      Einige der Rollläden fehlten und blaue Mülltüten wehten als drohende Vorboten im Takt des Windes. Wir klingelten. Rachel kam uns strahlend entgegen. Wir umarmten uns und stiegen die letzten Treppen zur Wohnung hoch.

      Staub schlug mir entgegen. Die Wohnung glich einer Ruine nach einem Bombenangriff. Es gab keine Möbel in der Wohnung, die Tapete war bis auf den Putz entfernt worden. Ein in Plastik eingewickelter Stuhl stand in der Mitte des Raumes. Vor dem Stuhl stand eine Kaffeedose. Auf der Kaffeedose lag eine bis ans Ende verglühte Zigarette, deren Asche sich zu einem mindestens fünf Zentimeter langen Bogen geformt hatte. Daneben brannte eine Zigarette, die nur zur Hälfte mit Tabak gefüllt war. Eine weitere Zigarette hatte meine Tante zwischen den Fingern. Ansonsten befand sich niemand in der Wohnung.

      Ich suchte das Schlafzimmer. Intuitiv suchte ich einen Raum, in dem man geborgen war. Rachel konnte doch unmöglich hier wohnen. Was war schlecht an der alten Tapete? Was war schlecht am alten Boden?

      Endlich fand ich das Schlafzimmer. Hier sah es auch so aus. Rachels Bett stand als einziger Farbmoment in der staubigen Wohnung. Die alte Tapete hing in Fetzen von der Wand. Neben dem Bett stand eine Kaffetasse. Mir war, als hätte ich mich in die »Mila 18«, einem Roman über das Leben einer jüdischen Widerstandsgruppe im Warschauer Ghetto, verirrt.

      Ich ging zurück in den Salon. Ich starrte wieder auf die zwei Zigaretten, von denen eine noch qualmte. Der Aschebogen faszinierte mich. Ich stampfte mit dem Fuß auf. Der Aschebogen der Zigarette fiel auseinander. Ich hörte noch, wie meine Mutter Rachel Vorwürfe über den Zustand der Wohnung machte. Rachel, wo hast du gegessen, wo hast du dich gewaschen? Wieso hast du alles auf einmal in Auftrag gegeben?

      Dann wurde es dunkel und ich kippte vornüber auf den mit Plastik umhüllten Stuhl. Mein Kopf landete im zerfallenen Aschebogen.

      Als ich aufwachte, stand Zoé an meinen Füßen. Sie hatte meine Beine hochgelegt. »Alles in Ordnung, schonkheit

      Zoé sah aus wie eine Hollywoodschauspielerin. Wenn ich mit ihr unterwegs war, zahlten wir nie Eintritt, wir zahlten auch nie Getränke, Zoé bekam überall einen Tisch.

      Am Abend zuvor waren wir mit einer großen Gruppe jüdischer Freunde aus Deutschland ausgegangen. Wir waren um die zwanzig Leute. Das Yotvatah Restaurant, in das wir wollten, war völlig überfüllt. Alle waren genervt, weil es keine Aussicht gab, irgendwo auf der Tel Aviver Promenade gemeinsam Abendbrot essen zu können.

      Zoé ging zu dem Manager des überfüllten Yotvatah Restaurants. Sie redete eine Minute mit ihm. Dann lächelte sie in die Runde und rief: »Jalah Chevre, kommt schon, wir können rein.«

      Wenn Zoé in meiner Nähe war, wurde ich übersehen, aber ihre ganze Aura war so liebevoll, harmonisch und positiv, dass ein Gefühl der Eifersucht nicht aufkam.

      Wenn wir am Strand entlang liefen, schauten ihr die Männer nicht nur hinterher, sie machten uns auch Platz, als wäre Zoé eine Königin. Ich platzte dann fast vor Stolz, neben ihr zu gehen.

      »Geht’s dir besser?«, fragte sie.

      »Ja«, sagte ich, »ich bleibe noch kurz hier liegen.«

      Jeder, der Zoé kannte, hatte etwas über sie zu sagen. Da wir auf die gleiche Schule gingen, hatten wir oft die gleichen Lehrer. Die Mathe-, Physik- und Biologielehrer hatten eine sehr hohe Meinung von Zoés Begabungen. Wenn sie unseren Nachnamen auf der Klassenliste lasen, freuten sie sich und fragten, wie es meiner Schwester ginge.


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