Das Meer. Blai Bonet
IBERISCHES PANORAMA
Die Publikation wurde gefördert durch das Übersetzungsprogramm des Instituts Ramon Llull
Blai Bonet
DAS MEER
Roman
Aus dem Katalanischen
von Frank Henseleit
Mit einem Nachwort
von Xavier Pla
Der Mensch ist wie das Meer:
Er dringt ein und wird durchdrungen, er denkt selbstständig und ist von seinem ätherischen Leben beeinflusst. Mit dem Menschen erhellt Gott die Schöpfung wie der Mond die Erde.
Blai Bonet
1 | MANUEL TUR |
Inmitten von Pinien- und Steineichenwäldern die flimmernde Landstraße, gesäumt von Olivenhainen und grauen Felsen zwischen grünen und schattigen Flecken. Das Olivgrün der Eichen, ein stumpfes, stilles Grün trockenen Laubs wie das Kaki der Uniformen der Soldaten. Neben dem Eichenwald ein langer, schmaler Sonnenstreifen, der farbige Kleckse über die Baumkronen tupft. Auf der anderen Seite, am Hang ein Wald, schwarz, ein einziger ungeteilter Schatten, davor ein Weg. Die Eichen, ein sparsames monochromes Grün, das wie eine Prozession den Berg hinabklettert und vor dem Grau des dicht zusammengerückten Ortes haltmacht, aus dem – ein weißer Fleck im Zentrum – die Kathedrale übergroß herausragt.
Die Landschaft, eben, rein, süßlich, bedächtig daliegend. Längliche, tiefschwarze Schatten einer Baumart, die ich nicht kenne, queren hier und dort die Äcker. Die Szenerie, sanft und wogend, wie das Meer.
Im Wechsel mit drückend heißer Luft verfinstern mal graue, mal weiße Wolken die Landschaft und das Blattwerk der Eichen. Im Westen mal diesiger Himmel, mal das Zartblau einer geöffneten Schwertmuschel am umspülten Strand. Dahinter tiefbleierner Nebel, wie aufgewirbelte Asche, wie Glasstaub, wie ätzende Flechte, wie rauer Sand, wie verkokelte Felsen.
Vor der Brüstung der Veranda – eine Galerie – wiegen grüne und bläulichgraue Schilfhalme ihre Ähren in anmutiger, unnützer Freiheit. Der Fensterrahmen, ein wie gemaltes Wogen der Schilfhalme, mit vorbeiziehenden Wolken über schwarzen, dichten, bergab prozessierenden Eichenwäldern.
Eine Hand liegt auf der Stirn, ich spüre, wie der übermäßige Schweiß an den Fingern klebt. Ich betrachte die glänzende, feuchte Hand. Dicke, sich sammelnde Tropfen, die auf die roten Ziegel der Fensterbank platschen.
„Adéu!“
Andreu Ramallo. Mit seinen ausgelaugten Gesichtszügen, der hervorstehenden Unterlippe und den tiefdunklen Augenhöhlen grüßt er, die Hand hebend.
„Manuel Tur.“
„Schwester.“
„Ein Brief.“
„Danke.“
„Ein Brief von zu Hause.“
Schwester Francisca Luna tritt bleich und scheu auf die Galerie hinaus, wo sie die Briefe verteilt, die Namen aufruft. Nervös und eilig, wie man Telegramme aufreißt, öffne ich den Umschlag. Das Papier raschelt.
5. März 1942
Lieber Bruder,
Wir haben deine beiden Briefe erhalten und du musst entschuldigen, dass wir dir nicht früher geantwortet haben. Es ist nicht so, dass wir nicht an dich denken, aber die Zeit rennt, der kleine Julian war krank, ein ständiges Hin und Her, weil er immerzu weint. Du wirst schon verstanden haben, dass dich Mutter diesen Donnerstag nicht im Sanatorium besuchen kann, weil sie mit Mateo Clar auf dem Feld arbeiten geht und man sie für die letzte Woche nicht bezahlt hat und die Fahrt zum Sanatorium fünfzig Peseten kostet. Sie sagt, du sollst dich nicht grämen, weil sie kommen wird, sobald sie kann. Wir wären gerne am Sonntag gekommen, weil wir es dir versprochen hatten, aber wir sind wegen des lieben Geldes zu Hause geblieben. Mittags aßen wir Mehl-Kroketten und Spinat und abends eine Orange und Pepe stritt sich mit Mutter, weil im Recreativo El Puente de Vaterló gezeigt wurde und er hinwollte und wir kein Geld hatten und seine Freunde kamen und fragten, warum er nicht mitkomme, und er nicht antwortete und sie dann abzogen.
Die neuen Stühle haben wir immer noch nicht, weil es nicht geht. Sie sollen 10 Duros kosten, das Stück, und das schaffen wir nicht, weil, du weißt schon, seit sie Vater im Krieg getötet haben, stecken wir in der Misere. Wenn sie wegen des Stroms kommen, beginnt Mutter zu weinen, weil sie nicht bezahlen kann und aussprechen muss, dass sie kein bisschen Geld besitzt, und der Einnehmer schreit sie dann an und Mutter bekommt dann du weißt schon was.
Gestern zerbrach der Verlobte von Magdalena noch einen Stuhl, als er sich draufsetzte, und wir schämten uns, sie sind so was von kaputt, sie halten nichts mehr aus.
Pepe nimmt jetzt Tricalcin und ist noch blasser und bockiger, weil ihm das Maisbrot nicht schmeckt, er wächst trotzdem und Don Onofre sagt, wenn er ins Sanatorium kommt, wird es ihm besser gehen, weil das Landleben sehr gut dafür ist.
Mama sagt, falls dir Brot übrig ist, dass du es nicht fortwirfst, sondern aufbewahrst und sie es nach Hause mitnimmt, auch wenn es trocken ist, sie legt es in Wasser und es wird weich und sie steckt es in den Ofen und es ist dann essbar.
Ich schreibe nicht weiter, weil Juanito schreit und im Bett liegt, er möchte nur, dass jemand vorbeikommt. Er beginnt schon alleine zu laufen und sagt Papa und Mama und ist schon ein Männlein, das schönste Kind der Welt. Wer sagte das nochmal?
Deine Mutter und Geschwister umarmen dich.
Apolonia Tur
Regungslos liege ich da, mit dem Papier in der Hand, und betrachte meine durch das transparente Leinen durchscheinenden Beine. Das helle Licht, das durch die geöffneten Fenster auf den Stoff fällt, lässt mich an den Kalk denken, auf den man die Toten legt, damit sie nicht aufquellen. Ich weiß nicht, warum mich das helle Licht an Kalk denken lässt. Eine seltsame Vorstellung. Dass wir alle hier halluziniert, entfleischt sind, als lägen wir alle auf Kalk und redeten und dächten und liebten ohne Unterschied, als ein einziger Mensch, der als ewig Todgeweihter teuflisches Zeug redet. Im Sanatorium zieht das Leben dahin, als rauchten wir Opium, ich am begierigsten, weil mich die brüchigen Stühle meiner Mutter nicht einschlafen lassen.
Es regnet heftig. Der Vorhang aus Regen – sein Geruch über der trockenen Erde – verdeckt das breite Feld und peitscht die Maulbeerbäume bei der Promenade. Das Schilf ist hinter dem Regen nicht mehr zu sehen. Im Spiegel über dem Waschbecken der zurückgeworfene Regen und die weißen Säulen der Veranda. Wie an jenem Abend, als Andreu Ramallo laut redend eine Sünde erfand und ich mir die Zunge blutig biss, um ihn nicht zu hören, der, nur weil er meinte, allein zu sein, mit schmutzigen Worten sündigte.
Jordi Mercader betritt mein Zimmer – sein Gesicht ist breit, hell, frei –, mit einer militärischen Geste stellt er sich stramm hin.
„Zu Ihren Diensten, Hauptmann!“
Jordis Augen strahlen gutherzig.
„Zweiter Offizier des Zerstörers Alhucemas zu Ihren Diensten.“
Jordi Mercader legt sich aufs Bett – wenn der kein Riese ist!
Meine Stimme:
„Aha, das Zweite …“
„Gefielen dir die Geheimnisse Kolumbiens, sag?“
„Ja