Der kleine Fürst Staffel 14 – Adelsroman. Viola Maybach
Inhalt
Der Brief eines Anwalts trifft auf Sternberg ein: Etwas
Ungeheuerliches wird darin behauptet: Der verstorbene Fürst
Leopold habe aus einer außerehelichen Beziehung einen Sohn
gehabt. Die Aufregung im Schloss ist groß. Christian, der kleine Fürst, ist außer sich vor Kummer. Der Charakter seines Vaters
wird auf einmal entscheidend in Frage gestellt. Den kleinen
Fürst beschleicht ein schlimmer Verdacht. Dieses einschneidende Ereignis wird uns alle längere Zeit beschäftigen. Die Affäre von
Fürst Leopold erschüttert Schloss Sternberg in seinen Grundfesten. Wie wird der kleine Fürst daraus hervorgehen?
Es war totenstill im blauen Salon von Schloss Sternberg. Christian von Sternberg, der kleine Fürst, war soeben erst von einem Besuch auf dem Familienfriedhof zurückgekehrt, auf dem seit dem letzten Jahr seine Eltern begraben lagen. Er besuchte sie jeden Tag, ›sprach‹ in Gedanken mit ihnen und versuchte auf diese Weise, den schrecklichen Verlust zu verarbeiten. Er war fünfzehn Jahre alt und hatte schon mehr Leid erlebt als mancher andere im ganzen Leben.
Aber es schien noch immer nicht genug zu sein, denn vor Kurzem war ein neues Unglück über Sternberg hereingebrochen: Christians verstorbenem Vater, dem Fürsten Leopold von Sternberg, wurde eine Affäre mit Folgen nachgesagt. Angeblich hatte Christian einen älteren Halbbruder. Dessen Mutter war eine Frau namens Corinna Roeder, die in einem Brief behauptet hatte, zu einer Zeit, da die junge Ehe des Fürsten noch kinderlos war, habe sie eine Liebesbeziehung mit Leopold begonnen, aus der schließlich ihr heute siebzehnjähriger Sohn hervorgegangen sei. Sie hatte ferner geschrieben, es gehe ihr nur um dessen Zukunft, weitere Forderungen werde sie nicht stellen. Sie sehe sich aber außerstande, ihrem Sohn die Ausbildung zu finanzieren, die er ihrer Ansicht nach für seine vielfältigen Talente brauche, und der Fürst könne sie ja nicht länger unterstützen, wie er es in den vergangenen zwanzig Jahren getan habe.
Seit der Brief mit ihren Forderungen auf Sternberg eingetroffen war, hatte sich das Leben dort noch einmal grundlegend verändert. Gerade erst neigte sich das Trauerjahr seinem Ende zu, da zeigte sich das Schicksal einmal mehr erbarmungslos. Seitdem bemühten sich die Anwälte der Sternberger, Corinna Roeder als Lügnerin zu entlarven, was ihnen bis jetzt nicht gelungen war. Im Gegenteil: Sie hatte Fotos von sich und dem Fürsten als Beweise vorgelegt, sowie einen Brief, den Leopold ihr angeblich geschrieben hatte. Außerdem waren ihre Behauptungen auf unbekannten Wegen an die Öffentlichkeit gelangt, was in den Medien einen beispiellosen Aufruhr verursacht und somit das Leben der Sternberger weiter erschwert hatte. Sie hätten ›die Affäre‹ lieber in aller Stille geklärt, doch diese Möglichkeit war ihnen nun genommen.
Fotos und Brief jedenfalls waren von unabhängigen Gutachtern auf ihre Echtheit überprüft worden. Bei den Fotos hatte es keine klaren Aussagen gegeben, die Gutachter waren sich nicht einig gewesen, ob es sich um echte Aufnahmen oder Fotomontagen handelte. Die Ergebnisse über den Brief waren erst jetzt vorgelegt worden, Christians Onkel, Baron Friedrich von Kant, hatte sie soeben verkündet, und das war der Grund für die tiefe Stille im blauen Salon von Schloss Sternberg.
Der Baron wiederholte seine Aussage jetzt noch einmal, wohl auch, um das drückende Schweigen zu durchbrechen. »Beide Graphologen sagen, der Brief, den Frau Roeder vorgelegt hat, stamme von deinem Vater, Chris. Ihre Gutachten stimmen in wesentlichen Punkten überein, obwohl sie unabhängig voneinander erstellt wurden.«
»Sie müssen sich irren«, sagte Christian tonlos. »Auch wenn es Experten sind, sie müssen sich irren. Papa hatte keine Affäre, niemals!«
»Ich glaube das auch nicht!«, erklärte Anna von Kant. Sie war zwei Jahre jünger als Christian und nicht nur seine Cousine, sondern auch seine beste Freundin.
Auch ihr Bruder, der sechzehnjährige Konrad, schlug sich auf Christians Seite. »Man kann heute alles fälschen«, sagte er. »Denkt an diesen Skandal in der Kunstszene! Da sind auch reihenweise Experten auf Fälschungen hereingefallen. Diese Gutachten sagen überhaupt nichts aus.«
Jetzt ergriff zum ersten Mal Baronin Sofia das Wort, Friedrichs Frau, Annas und Konrads Mutter. »Es ist auf jeden Fall ein Rückschlag«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
Sofia von Kant war die Schwester von Christians Mutter gewesen, und noch immer konnten ihr unwillkürlich Tränen in die Augen steigen, wenn sie an Fürstin Elisabeth dachte. Die beiden Schwestern hatten schon als Kinder sehr aneinander gehangen. In späteren Jahren war ihre Verbundenheit sogar noch gewachsen, denn Sofia und Friedrich waren auf Wunsch des Fürstenpaares seinerzeit mit ihren Kindern nach Sternberg gezogen. Elisabeth und Leopold wussten damals schon, dass ihr Sohn Christian ein Einzelkind bleiben würde, sie wollten ihn aber nicht als solches aufwachsen lassen. Und so waren Anna, Konrad und Christian wie Geschwister groß geworden. Die beiden jungen Familien hatten glückliche Jahre zusammen auf Schloss Sternberg verlebt, bis der jähe Unfalltod des Fürstenpaares dem ein Ende bereitet hatte.
Es hatte Christian bei der Bewältigung seiner Trauer sehr geholfen, dass er nicht auch noch seine Heimat verlassen musste. Er war lediglich vom Ostflügel des Schlosses, den er mit seinen Eltern bewohnt hatte, zu den Kants in den Westflügel gezogen.
Die Familie war an diesem Abend nicht allein, sie hatten zwei Gäste, die freilich beide mit ›der Affäre‹ befasst waren. Cosima von Orth arbeitete für die Sternberger Anwälte und hatte eine hoffnungsvolle Spur gefunden, die Corinna Roeder mit einem mutmaßlichen Fälscher in Verbindung brachte, Peter von Boehringen hatte ihr, nicht ganz freiwillig, dabei geholfen, diese Spur zu finden. Die beiden waren sich allen widrigen Umständen zum Trotz nähergekommen und jetzt ein glücklich verliebtes Paar. In diesem Augenblick freilich sahen sie so niedergeschlagen aus wie ihre Gastgeber. Die Kants hatten Cosima eingeladen, um sich bei ihr für die bisher geleistete Arbeit zu bedanken, mit Peter waren sie schon länger befreundet. Jetzt freilich sah es so aus, als verliefe Cosimas Spur im Sande.
»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich sofort wieder abreiste?«, fragte sie unsicher. Sie war eine niedliche Dunkelhaarige, die jünger aussah als sie war, was ihr bei ihren Nachforschungen gelegentlich half. Man unterschätzte sie leicht. »Ich könnte es verstehen, wenn Sie jetzt lieber unter sich wären.«
»Nein, du musst bleiben!«, rief Anna impulsiv, ohne die Antwort ihrer Eltern abzuwarten. »Du hast herausgefunden, dass es eine Verbindung von dieser Frau Roeder zu