Ungebremst durch Kermanschah. Maryam Djahani

Ungebremst durch Kermanschah - Maryam Djahani


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      “Geht es um die Familienehre?“

      “Ja, um die Ehre, Kindchen... um die Ehre…“ Sie starrt auf die Scheibe.

      “Gott hat meine Tochter als geborene Elektrikerin geschaffen. Dermaßen interessiert sie sich dafür. Das einzige, was sie nicht reparieren konnte, waren Mobiltelefone. Also hat sie eine Weile bei jemandem als Lehrling gelernt, bis sie auch darin Meisterin war. Seit letztem Jahr hat sie in einem Mobiltelefon-Serviceladen, unten in der Emad-Passage gearbeitet. Sie hat gut verdient. Unser Leben wurde allmählich besser…“

      Sie seufzt und steckt die Orangentüte unter ihren Tschador.

      “Der Besitzer wusste, dass meine Tochter niemanden hat außer mir und hat sich schon die Lippen geleckt, der Lump. Als er sie angrapschen wollte, hat meine Tochter die Ladentür eingeschlagen und mit einem Glassplitter seine Schulter aufgeritzt.“

      Der Geschwätzige schüttelt den Kopf.

      „Emad-Passage? Dass dort alle Sorten Männer herumlungern, weiß doch jeder. Wenn deine Tochter Verstand gehabt hätte, hätte sie gewusst, dass es besser ist, ohne Geld zuhause zu sitzen, als sich einem Haufen Männer in die Arme zu werfen…“

      Ein Minibus voller Soldaten überholt uns und bespritzt meinen Wagen über und über mit Wasser und Schlamm. Wir sind in Rashidi. Der Schweigsame sagt: “Vielen Dank, hier steigen wir aus.“

      Ich halte am Straßenrand. Sie steigen aus. Der Geschwätzige und der Junge entfernen sich. Der Schweigsame streckt seine Hand mit einem Fünftausender am Gesicht der Alten vorbei in meine Richtung. Als ich das Geld nehme, spüre ich darunter die Glätte eines Papiers. Ich werfe das Geld auf das Armaturenbrett, zerreiße vor seinen Augen die Visitenkarte und werfe sie aus dem Fenster. Er wird abwechselnd rot und blass und geht, sobald ich ihm das Wechselgeld gegeben habe. Die Alte hat anscheinend nur darauf gewartet, dass die anderen gehen, und zeigt mir ihre Orangentüte: “Die hatte ich ihr mitgebracht. Aber drinnen durfte ich sie ihr nicht geben.“

      Sie holt eine Orange heraus und legt sie auf das Armaturenbrett.

      “Nimm du sie, Kindchen…“

      Sie steigt aus und ich weiß nicht, ob ich sie anschauen soll oder die Schlange der fliegenden Verkäufer, die Plastiktüten auf dem Kopf tragen und vor Kälte zittern. Hier herrscht reger Betrieb. Ins Stocken geratener Betrieb. Von Uhrenbatterien über Rasierklingen, Schneidemesser, Schälmesser, und Nylonstrümpfe wird alles feilgeboten. Die Waren sind mit Plastiktüten abgedeckt. Doch niemand außer der alten Frau wirft einen Blick darauf.

      Es regnet auf die kahlen Bäume, den Straßenbelag und die Wagenfenster. Das schabende Geräusch der Scheibenwischer macht schläfrig. Die Orange auf dem Armaturenbrett rollt von einer Seite auf die andere. Mein Blick gleitet wie an den vergangenen Tagen von den schneebedeckten Bergen am Horizont zu den Fußgängern und ich mustere hie und da die Männer, die auf dem Nachhauseweg sind. Nach Fahrgästen sucht man doch nicht auf dem Bürgersteig. Was soll das also? Was ficht mich an, an diesen verdammten Mittagen, an denen ich in der Luft hänge und in meinem inneren Ohr das Klappern der Löffel und Gabeln von den Tafeln glücklicher Familien widerhallt? Oder eine Männerstimme, die mich beim Vornamen ruft: “Shohre, komm Mittag essen…“ Ich bin also süchtig danach, mit einem Mann zusammen zu essen? Oder nach den Händen dieses Mannes, die nach dem Essen ins Wasser und den Schaum des Spülbeckens sinken und zusammen mit einem Paar Frauenhänden das Geschirr abwaschen? Ich krame in meinem Gedächtnis nach einem solchen Bild von Hamed. Es gibt keins. Und wenn es eins gab, dann nicht für mich. Er hatte seiner Cousine geholfen, bei ihr zuhause die Haken der Übergardinen in die Ringe zu hängen und ich hatte gesehen, wie sich ihre Hände immer wieder berührten. Er hatte für unsere unverheiratete Nachbarin Computerprogramme installiert, und sie hatte ihn danach zu einem Glas hausgemachte Limonade eingeladen. Wir beide dagegen hatten nie unsere Hände zusammengelegt, um Geschirr abzuwaschen. Woher hatte ich also das Bild von eingeschäumten Händen? Aus den Serien des Satellitenfernsehens bei mir zuhause, die Mahbube sich ansieht, um die Zeit totzuschlagen. Arme Mahbube, was fängt sie nur an, ganz allein, mit diesem Bilderhaufen?

      Einige Meter vor mir hebt ein Mann im Anzug, etwa Mitte Dreißig, die Hand. Im Nu bin ich hellwach. Er ist hochgewachsen. Seine Brust- und Nackenmuskeln zeichnen sich ab. Und das am Ende eines Vormittags. Ich trete auf die Bremse. Nur großzügige Fahrgäste heben die Hand. Diejenigen, die ihr Fahrtziel rufen, machen manchmal einen

      Aufstand wegen hundert Ein-Toman-Scheinen. Dann musst du entweder auf dein Recht verzichten oder du musst das Taxometer einschalten. Der Mann klappt seinen Regenschirm zusammen und steigt hinten ein. Der Duft seines Rasierwassers und die Kälte von draußen verbreiten sich im Wageninneren.

      “Einzelfahrt zum Zweiundzwanzigsten Bahman.“

      Zwischen dem Viertel Zweiundzwanzigster Bahman und Shahnaz, wo ich wohne, liegt eine ganze Erdumdrehung. Dort sind die Wohnstraßen breit, baumbestanden und es gibt viele Parkplätze. Hier dagegen sind die sie eng und voller aufgeplatzter Müllsäcke und langlebiger Katzen. Ich lebe im fünften Stock eines Wohnblocks, der mitten zwischen vierzig Jahre alten Häusern steht. Fünfzig-, Siebzig-Quadratmeter-Wohnungen und... Man weiß nicht, wie viele Häuser sie zusammengeflickt haben, um unseren Wohnblock zu bauen. Ich drehe das Radio auf. „... Vielleicht möchte jemand, der die Abgeschiedenheit freiwillig gewählt hat, gar nicht aus ihren Fesseln befreit werden. So definiert sich die Freiheit immer in Bezug auf etwas oder eine Situation...“ Der Mann ist über die Zeitschriften in seiner Hand gebeugt. Auf seinen Füßen liegt eine, eine Sportzeitschrift, soviel ich sehen kann. Mit einer Hand blättert er, mit der anderen kratzt er seinen Professorenbart. Ich mag Professorenbärte. Sie verleihen ihrem Träger Würde und einen Anstrich von Bildung. Hamed pflegte zu sagen: Ein Professorenbart steht Dicken mit Doppelkinn.

      Einmal kam ich zu seinem Laden. Sorgsam ausrasierter Bart, glänzendes Haar und große, braune Augen mit langen Wimpern, die Schatten auf seine Wangen warfen, so stand er inmitten von Frauen. Jede wollte etwas. Jede hatte eine Frage. Eine sagte: “Herr Hamed, ich habe meinem Friseur das Haselnussbraun gegeben. Er hat gesagt, dass mir die Farbe nicht steht, ich soll sie nicht nehmen!“

      Hamed verpackte eine Eau de Cologne-Schachtel und antwortete „Nimm sie nur, falls sie dir nicht steht, geht das auf mich…“

      Eine andere fragte: “Herr Hamed, haben sie etwas gegen Schuppen?“

      Hamed schloss den Deckel des Rouges auf der Vitrine.

      “Da habe ich etwas. Das ist super. Im Regal hinter Ihnen…“ Wieder eine andere erkundigte sich: „Habt ihr nur diese Nagellack-Farben?“

      „Aber nein. Geh mal in die Hocke. Im untersten Fach sind alle Farben, die es gibt.“

      Rechts neben mir bückte sich eine Frau und nahm die Schachtel mit den Schminkstiften aus dem Regal.

      Ich sagte: “Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich möchte eine Feuchtigkeitscreme für die Hände.“

      „Im Regal... Ach, was machst du denn hier?“

      Ich fühlte, dass ich ihn mit meinen schwarzen Händen, dem zerknitterten Mantel und den unordentlichen Haaren, die unter dem Schlupfkopftuch hervorlugten, in Verlegenheit brachte. Weil das Lächeln von seinen Lippen wich. Die Frau, die die Schachteln herauszog, drehte sich um und sah mich an, und ich erkannte sie an ihren Kontaktlinsen. Ich wiederholte: „Ich möchte eine Creme.“

      Hamed erwiderte: “Ich hab’ zu tun. In der Vitrine. Nimm sie dir selbst.“

      Er hätte sagen können: “Geh nach Hause, ich bringe sie dir heute Abend mit“ oder “Warum hast du heute morgen nichts gesagt?“ oder... Außer dem ersten Satz, der ihm entschlüpft war, zeigte er keinerlei Anzeichen von Bekanntschaft. Ich fühlte, dass seine Hände leicht zitterten. Ich fühlte die glänzenden dunkelblauen Linsen auf mir ruhen. Ich fühlte...

      Ich drehe das Radio auf. „Die Freiheitsliebe hat ihre Wurzeln in den Veränderungen, die das europäische Denken in den letzten Jahrhunderten durchgemacht hat. In der Enzyklopädie...“

      Am Naft-Platz, neben dem Zeitungskiosk ruft eine Frau mit einem


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