Siehdichum. Anne Dorn

Siehdichum - Anne Dorn


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      Anne Dorn

      Siehdichum

      Anne Dorn

      Siehdichum

      Roman

      Dieses Buch entstand mit finanzieller Unterstützung der

       KUNSTSTIFTUNG

NRW

      Das Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen unterstützte die Arbeit an diesem Roman im Jahr 2002 mit einem Arbeitsstipendium. Autorin und Verlag danken.

      Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

      ISBN 978-3-937727-24-1

      eISBN 978-3-943941-27-2

      © Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2007

      Lektorat: Christian Döring

      Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

       www.dittrich-verlag.de

       Für meine sieben Enkelkinder

      Sollte alles denn gewusst sein?

      Ach, ich glaube nein!

      Paul Klee, 1940

      Kein Mensch kan[n] der Ersa[t]z des anderen sein!

      Jean Paul, aus seinem Ideen-Gewimmel

      I

      Die tote Seitenstraße lag im Dunkel, an der Hotelrezeption im Großpolen wartete eine junge Frau in Mantel und Mütze. Sie drückte Martha den Zimmerschlüssel in die Hand und wies noch den Weg durch einen schwach beleuchteten Flur, kein Mensch sonst zu sehen, alles still. Martha Lenders wollte gestern abend ohnehin nichts anderes mehr als ihre Ruhe. Im Zimmer nahm sie sofort ihr Nachthemd aus dem Koffer, aß ohne richtigen Hunger eine trockene Semmel und einen Apfel. Dann wollte sie sich ein bisschen waschen, die Zähne putzen.

      Die Badewanne im unverhältnismäßig großen Badezimmer kam ihr auf breiten, gußeisernen Tatzenfüßen entgegen, altmodisch bequem, stabil. Es verlockte Martha trotzdem nicht, im warmen Wasser wieder lebendig zu werden. Gewöhnlich sortierte sie am Abend ihre Notizen, Rechnungen, beiläufig erstandenen Gegenstände und ihr Bargeld. Gestern ließ sie alles beim alten.

      Mit dem polnischen Fernsehprogramm kannte sie sich inzwischen aus. In Posen/Poznań, der dritten Station ihrer Reise, wäre es ein Leichtes gewesen, einen deutschen Sender zu finden, aber sie blieb bei diesem polnischen Erzähler, einem Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, der in seiner Wohnung umherging und mit sich selber sprach. Noch immer versteht sie kein Polnisch, verstand aber diesen Mann, der nicht besonders schön war, ihr jedoch gefiel. Irgendwen oder irgendwas suchte er, sprach auf seiner Bettkante sitzend und am Tisch, schaute aus dem Fenster oder in seine Schränke. Und dann zog er einen kleinen, abgenutzten Koffer unter dem Bett vor und lud ihn sich auf die Knie. Die Kofferschlösser sprangen auf, nichts verrostet oder von erstarrtem Öl verklebt. Martha betrachtete mit ihm vergilbte Papiere, Fotos, Zeitungsausschnitte und Briefe, was alles er nur zurechtschob, nicht aus dem Koffer nahm. Ganz behutsam griff er nach einem Schmetterling, einem Tagpfauenauge! Sie sah mit an, wie der Falter sich in der Handwärme des Menschen auf sein Leben besann, seine Flügel spreizte und wieder zusammenschlug. Tagpfauenaugen, das wusste sie, gehören zu den Eckenfaltern, sie haben schon in der Zwischeneiszeit gelebt. Deshalb suchen sie einem geheimen, inneren Signal zufolge schon im August einen Winterschlupf. Es ist Ende Oktober. Der Falter gehörte sicher nicht zu den im Koffer aufbewahrten Dingen, er hatte sich hineingeflüchtet. Schlaftrunken ruhte er jetzt auf der Hand, die ihn hervorgeholt hatte, und der Mann staunte. Bis der Falter aufflog, nicht weit, nur bis zu der in breite Falten gelegten Übergardine. Der Mann im Film erzählte unentwegt weiter, aber Martha schaltete das Fernsehgerät aus. Seit ihrem Aufbruch in Koblenz trug sie an diesem vermeintlich leichten Gepäck wortloser Geschichten.

      Heute morgen, als sie sich die Unterschenkelstützstrümpfe anzog –, was immer mühselig war, denn sie musste die zehenlosen Füßlinge mit beiden Händen gerade richten, damit die eingewebten Fersen auch richtig zu sitzen kamen –, war ihr gestriges Einverständnis einer Melancholie gewichen. Wieder fiel es ihr schwer, sich zu bücken. Ein großer Spiegel, der dem Bett gegenüberstand, führte ihr vor, dass ihr Körper dabei war, seinen Zusammenhalt zu verlieren! Unvermittelt, denn sie sah es zum ersten Mal: An ihren rund und straff gewesenen Armen bewahrten die Knochen die alte Form, aber das Fleisch fiel von diesem Gerüst. Deutlich getrennt zu sehen Ellenbogen, Speiche und die von der gefältelten Haut gehaltene Muskulatur, beinahe wie bei einem neu geborenen Kind. Drei solcher anfälligen Wesen hatte sie vor Jahren, als junge Mutter, in ihre Arme geschlossen, aber sich niemals vorgestellt, dass diese Weichheit und Empfindlichkeit zurückkehren und am eigenen Körper zu spüren sein könnte.

      So schnell sie konnte, entwischte sie dem Spiegel und verschloss das von ihr bewohnte Zimmer 114. An der benachbarten Zimmertür stand die Zahl 112. Martha sah sich um: kein Zimmer 113, vermutlich auch keine Zimmer mit den Nummern 13 oder 213. Ein Hotel im Stil der Fünfziger Jahre, ein volksdemokratisches Hotel, und so mit Aberglauben geschlagen! Bislang hatte sie angenommen, östlich der Elbe habe man mithilfe des Kommunismus jede Erscheinung des Lebens erklärt, Glauben und Aberglauben ausradiert, das ganze Dasein auf Linie gebracht. Diese aus der Reihe tanzenden, polnischen Hoteliers liebte sie sofort! Und hätte trotzdem auch in einem Zimmer 113 ruhig geschlafen.

      Jetzt wollte sie frühstücken. Ihre derzeitige Leibspeise war polnischer Borschtsch, diese rote, würzige Mittagssuppe. Vermutlich war es von nun an gleichgültig, wann sie was aß, das Alter saß ihr im Nacken. Vielleicht befand sie sich auf dieser Reise in einem Verwandlungsprozeß, für den sich noch kein Gefühl fand. Wie in dem Schmetterling, der noch einmal sein Winterquartier verließ, so regte sich in ihr eine gewisse Bedenkenlosigkeit.

      Auf der Zugfahrt von Krakau/Kraków nach Posen/Poznań hatte sie zwangsweise anderen vertraut. Keiner der Menschen, die sie auf dem Bahnhof in Krakau ansprach, verstand ihr Deutsch, Englisch oder Französisch. Der Hotelportier, der sie zum Zug gebracht hatte, redete – vermutlich der zehn Zloty Trinkgeld wegen, die sie ihm gegeben hatte – mit dem Zugschaffner. Sie zeigte ihm ihre Reservierung, aber er wies ihr einen Platz in einem Abteil mit durchgehenden Sitzbänken zu. Eigentlich sollten sich da auf jeder Seite vier Menschen nebeneinander arrangieren.

      Martha blieb mit nur einem anderen Fahrgast allein, einem jungen Mann. In Griffweite hütete er eine auffallend schöne Lederreisetasche. Ihr Gepäck sah dagegen schäbig aus. Sie bemerkte, wie der Schaffner im Gang einen Zettel beschrieb und an die Abteiltür klebte. Andere Reisende kamen, stellten ihre Koffer ab, um die Abteiltür zu öffnen, aber nach der Lektüre des Zettels nahmen sie ihr Gepäck wieder auf und gingen weiter. (Es war ihnen also schriftlich verwehrt, neben Martha oder dem jungen Mann zu sitzen.) Wer war dieser Andere, dem ebenfalls eine ganze Sitzbankreihe gegönnt war? Er zog seinen Schal durch beide Henkel seiner Reisetasche und behielt die Schalenden in der Faust. Martha hätte gern gewusst, ob die bevorzugte Behandlung von einzelnen Reisenden hier Entgegenkommen bedeutete oder Kontrolle?

      Nach einer Stunde Fahrt zog sie sich ihre Schuhe aus und streckte sich lang. Laut Fahrplan dauerte die Fahrt von Kraków nach Poznań sieben Stunden. Es wurde rasch dunkel, so viel weiter im Osten als zu Hause, also viel eher von der Sonne erreicht und wieder verlassen. Das ausgestreckt Daliegen tat nicht unbedingt gut. Die Räder der alten, wenn auch neu aufgepolsterten Waggons schlugen und krachten über die Gleise, so dass es besser war, den Stößen nur die Sitzfläche zu bieten, nicht den ganzen Körper. Spürbar lag ein Missverhältnis zwischen dem Tempo des Zuges und den Einrichtun gen der polnischen Eisenbahn. Betrachtete


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