Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!. Natasha A. Kelly
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Natasha A. Kelly
Rassismus
Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen!
Die Schwarze deutsche Community weist seit Jahrzehnten darauf hin, dass Rassismus alle Strukturen unserer Gesellschaft durchdringt. In der öffentlichen Debatte wird allerdings noch immer auf einer individuellen Ebene nach einer Patentlösung gesucht. Doch erst wenn wir die strukturelle Dimension des Rassismus verstehen, können wir erfolgsversprechende Maßnahmen dagegen entwickeln, denn strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen. Die promovierte Kommunikationssoziologin und akademische Aktivistin Natasha A. Kelly schafft mit ihrem Buch eine längst überfällige Grundlage für den informierten Dialog über Rassismus. Anhand von konkreten Beispielen aus der aktuellen Debatte zeigt sie, wo die Strukturen des Rassismus verlaufen – und setzt selbst elementare Impulse für die Diskussion.
Einleitung
Als die Öffentlichkeit im Mai 2020 Zeugin der Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten wurde, ist eine bittere Wahrheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, die Schwarzen Menschen nur allzu bewusst ist: Rassismus tötet![1] Nach dem Tod von George Floyd wurde in Deutschland allerdings unverblümt mit dem Finger auf die Polizei in den USA gezeigt. Die rassistischen Morde der eigenen Polizei waren vergessen: Kola Bankole (1994), Aamir Ageeb (1999), N’deye Mareame Sarr (2000), Michael Paul Nwabuisi (2001), Oury Jalloh (2005), Laye-Alama Condé (2005), Dominique Koumadio (2006) oder Christy Schwundeck (2011). Die Liste der Schwarzen Menschen, die in den letzten dreißig Jahren durch die deutsche Polizei zu Tode kamen, ist lang. Schon 2016 hatte sich hierzulande eine Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM) gegen institutionellen Rassismus bei der Polizei und rassistische Polizeigewalt gegründet. Demonstrationen der Größenordnung des Sommers 2020 hatte sie allerdings noch nicht hervorgebracht. Insgesamt hat es in der Geschichte Deutschlands nur selten ein großes öffentliches Interesse für die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen gegeben. Und wenn Interesse bestand, war das nicht immer positiv, wie beispielsweise bei der rassistischen Propagandakampagne gegen den Einsatz Schwarzer Kolonialtruppen nach dem Ersten Weltkrieg. Im Sommer 2020 war aber alles anders. Gestärkt durch die Corona-Pandemie versammelten sich Bürger:innen aus allen gesellschaftlichen Schichten in verschiedenen deutschen Städten, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Und obwohl der Anlass ein sehr trauriger war, war das Gefühl der Solidarität überwältigend.
Doch allzu bald wurde dieses Gefühl von der mangelhaften Berichterstattung und von zahlreichen politischen Fehlentscheidungen und -tritten überschattet. Selten waren so viele Schwarze Menschen in Talkshows zu sehen, die der Reihe nach von ihren individuellen Rassismuserfahrungen berichteten. Durch das (Mit-)Teilen solcher Schmerzerfahrungen sollten die weißen Zuschauer:innen mithilfe von Empathie an das Thema herangeführt werden. Was hinzu kam und für viele Zuschauer:innen neu gewesen sein mag, war die Tatsache, dass sie als weiße Mehrheitsgruppe angesprochen wurden und nicht als neutrale Individuen. Erstmals konnten sie sich selbst in der Position des handelnden weißen Subjekts beobachten, das aus einer weißen Normposition heraus Rassismus ausübt. Wie wir nämlich aus der Critical-Whiteness-Forschung wissen, ist »weiß« keine objektive Kennzeichnung eines äußeren Erscheinungsbildes, sondern eine durch Rassismus geschaffene privilegierte Positionierung.[2] In einer rassistischen Gesellschaft sind weiße Personen nie aufgrund dessen, dass sie als weiß wahrgenommen werden, systematisch und strukturell diskriminiert worden – egal, ob sie in der Mehrheit oder in der Minderheit waren bzw. sind. Und das können sie als von Rassismus privilegierte Personen auch nicht.
Die Reaktion der Mainstream-Medien auf die Black-Lives-Matter-Demonstrationen war sehr einseitig. Sie versäumten es, über die weiße Position hinauszugehen und das Leben Schwarzer Menschen getreu dem Motto »Black Lives Matter« tatsächlich in den Mittelpunkt zu rücken. Stattdessen kam ihre Haltung – bewusst oder unbewusst – dem Ruf nach »All Lives Matter« gleich.[3] Ihr Unwissen um strukturellen Rassismus wurde unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Deutlich wurde, wer sprechen kann und wer nicht, wer gehört wird und wer nicht, und vor allem, über welche Themen gesprochen werden darf und über welche nicht. Schwarze Subjektpositionen, die längst die ihnen zugeschriebene Opferrolle überwunden haben, oder Schwarze Expert:innen, die seit Jahrzehnten in Wissenschaft und Praxis zum Thema arbeiten, wurden weitestgehend übergangen und Schwarze deutsche Geschichte selten in den Fokus gerückt. Dadurch wurde die gesellschaftliche Position von Schwarzen Menschen in Deutschland schlichtweg unsichtbar gemacht.
Sowohl Medien als auch Politik legten durch ihren mangelhaften Umgang mit den historischen Fakten und aktuellen Ereignissen ein tieferliegendes Problem der deutschen Gesellschaft offen: ein falsches, verkürztes Verständnis von Rassismus, das seine strukturelle Dimension ignoriert. Dabei ist Rassismus eine spezifische Form der Diskriminierung, die sich aus institutionellem Rassismus, internalisiertem Rassismus, interpersonalem Rassismus und Alltagsrassismus speist. Auf diesen Ebenen werden Machtverhältnisse geschaffen, die die gesellschaftlichen Strukturen und sogar globale Hierarchien zwischen Ländern und zwischen Kontinenten herstellen. Der Begriff »struktureller Rassismus« bezeichnet dementsprechend rassistische Machtmechanismen, die in Individuen, Gesellschaften oder Institutionen verankert sind und diese negativ beeinflussen. Auch wenn struktureller Rassismus und institutioneller Rassismus häufig synonym verwendet werden, darf der strukturelle Rassismus weder auf seine institutionelle noch auf seine individuelle Ebene reduziert werden.
Wichtig ist auch zu betonen, dass es nicht nur Rassismus gegen Schwarze Menschen gibt, was häufig als Anti-Schwarzer Rassismus bezeichnet wird, sondern auch andere Formen des Rassismus, wie antimuslimischen oder antiasiatischen Rassismus sowie Rassismus gegen Rom:nja und Sinti:zze. Auch der Antisemitismus wird häufig als Sonderform des Rassismus betrachtet. Rassismus gegen weiße Menschen gibt es jedoch nicht und hat es auch noch nie gegeben – dazu müssten wir in der Geschichte zurückreisen und die Machtverhältnisse umkehren, weiße Menschen unterdrücken, sie ihrer Subjektivität berauben und an ihrer persönlichen und kollektiven Entwicklung hindern.[4] Streng genommen müssten wir also von Rassismen in der Mehrzahl reden. Sie unterscheiden sich nicht nur durch die betroffenen Gruppen, sondern auch in ihrem geschichtlichen Verlauf und in ihrer sozialen und politischen Verstetigung, d.h. in der Art und Weise, wie sich der jeweilige Rassismus über die Zeit ausgeformt und in die Gesellschaftsstrukturen eingeschrieben hat. Zudem können sich Rassismen mit weiteren Diskriminierungsformen überschneiden, wie etwa Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, des Alters, aufgrund von Behinderungen etc. Die Verschränkung zweier oder mehrerer dieser Diskriminierungsformen ist als Intersektionalität[5] bekannt. So sind Schwarze Frauen*[6] etwa sowohl von Rassismus als auch von Sexismus betroffen, die zusammenwirken und eine spezifische Form der Mehrfachdiskriminierung hervorbringen.[7]
Aus ebendieser Perspektive bzw. an dieser Intersektion (dt. Kreuzung) stehend – um es mit den Worten von Kimberlé Crenshaw zu sagen – schreibe ich dieses Buch. Als Schwarze heterosexuelle cis[8] Frau, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland verortet, Schul- und Wissenschaftssysteme mit allen strukturellen Herausforderungen durchlaufen hat und nicht nur am eigenen Leib Rassismus und Sexismus erlebt und überlebt hat, sondern auch dazu geforscht und gelehrt hat, ist es mir ein großes Anliegen, mir Gehör zu verschaffen, solange noch zugehört wird. Denn viele Dinge, die folgen, wurden schon mehrfach von Schwarzen Frauen* gesagt. Genau genommen, wird seit Beginn der zweiten Welle der Schwarzen Bewegung in Deutschland, die im Zuge der aufstrebenden Frauen*bewegung Mitte der 1980er Jahre entfacht worden ist, vom strukturellen Rassismus gesprochen.
Verstanden wurde das in der Breite der Gesellschaft bislang jedoch nicht, denn noch immer wird Rassismus in Deutschland beinahe ausschließlich in den individuellen Erfahrungen der einzelnen Betroffenen gesucht und nicht in den Strukturen der Gesellschaft. Rassismus gegen Schwarze Menschen können wir aber nur verstehen, wenn wir das Thema nicht auf individuelle Vorurteile, Einzelfälle und Intentionen reduzieren, sondern aus der Betroffenheitsecke herausholen. Auch wenn es verlockend ist, das Thema zu vereinfachen, darf Rassismus nicht als eindimensionales Konstrukt betrachtet werden. Wir befinden uns nämlich in einer komplexen Machtmatrix und nicht in einem linearen Machtgebilde.
Nun, ich möchte nicht