Sklavenjagd. Tomàs de Torres
ihm wieder ins Gesicht zu blicken, das zu einer Grimasse verzogen war, die wohl ein Lächeln darstellen sollte – das Lächeln eines Mannes, der nicht zu lächeln gewohnt war.
Erzählt er mir jetzt seine Lebensgeschichte?, erschrak sie unwillkürlich. Das hier ist doch keine Bar!
Die Kellnerin erschien, um die neue Bestellung aufzunehmen, doch eine herrische Handbewegung Verdugos verscheuchte sie augenblicklich.
»Señorita Muñoz«, sagte der Mann mit einer tiefen und kratzenden Stimme, die klang, als hätte er jahrzehntelang zwei oder drei Schachteln Zigaretten pro Tag geraucht.
Das Wort »Erschrecken« konnte das Gefühl, das Dolores bei der Nennung ihres Namens überfiel, nicht einmal annähernd beschreiben. Ein nie gekanntes Entsetzen erfasste sie, und für einen Moment fühlte sie sich wie jemand, um den herum ein Dutzend Polizeischeinwerfer aufflammte, während er gerade dabei war, eine Leiche zu vergraben. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, ihre Kehle fühlte sich plötzlich an, als habe sie einen 50-Kilometer-Marsch durch die Wüste hinter sich, und ihre Lippen und Hände zitterten. Rasch ließ sie den Löffel zurück in die Suppe sinken, bevor sie etwas verschüttete.
»Señorita Muñoz«, wiederholte der Fremde, und in seinen grauen Augen blitzte dabei etwas auf, das Dolores sagte, dass er das, was er gerade tat, genoss. »Ich habe die Ehre und auch das Vergnügen, Ihnen ein Angebot zu machen.« Dabei glitt sein Blick taxierend über ihren Körper, als sei sie ein Pferd, das er zu kaufen beabsichtigte – wenn die Musterung zu seiner Zufriedenheit ausfiel und jedes Haar, jeder Muskel und jede Rundung seinen Beifall fand.
Dolores fröstelte unwillkürlich. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte keinen ironischen Unterton in seiner rauen Stimme ausmachen. Einen Sinn in seinen Worten allerdings ebenso wenig.
Sie schluckte. »Ich – ich kaufe nichts, vielen Dank«, war alles, was sie hervorbrachte.
»Ich will Ihnen auch nichts verkaufen, ganz im Gegenteil«, beteuerte Señor Verdugo. »Ich will Ihnen einen Weg aufzeigen, wie Sie in nur zwölf Stunden – vielleicht sogar weniger, mit ein wenig Geschick und Glück – 100.000 Euro verdienen können. Bar auf die Hand und natürlich steuerfrei!«
Sie starrte ihn an und vergaß dabei sogar zu blinzeln. Gerade war sie noch überzeugt gewesen, dass das Auftauchen dieses seltsamen, Furcht einflößenden Mannes mit dem Unfall bei El Torcal und dem, was danach geschehen war, zusammenhing, aber nun wusste sie überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte.
Verdugos nächste Worte jedoch ließen Dolores erkennen, dass ihre ursprünglichen, schlimmsten Befürchtungen tatsächlich zutrafen.
»Sie wurden am Freitagabend unfreiwillig Zeugin eines, nun, sagen wir einmal: nicht alltäglichen Vorkommnisses, das Sie möglicherweise etwas verwirrt hat …«
Hastig senkte Dolores den Kopf und versteckte ihre zitternden Hände unter der Tischplatte.
»Ich – ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, murmelte sie. In ihren Gedanken tobte das Chaos, ein Wirbelsturm von Empfindungen durchtoste sie.
Was will er von mir? Mein Gott, was will er nur von mir?
»Oh.« Verdugos Stimme klang nun ehrlich erstaunt. »So ein kurzes Gedächtnis haben Sie?« Er machte eine kurze, aber offensichtlich wohlberechnete Pause, bevor er fortfuhr: »Aber ja doch, ich verstehe durchaus – es gab ja so viele andere Eindrücke für Sie an diesem Wochenende. Die Premiere von ›Dreisamkeit‹, der Krach mit Ihrem Freund, Ihr nächtlicher Aufbruch … Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Ihnen das Vergessene vielleicht wieder in Erinnerung ruft.«
Er hatte Dolores, erkannte diese mit plötzlicher Klarheit, dort, wo er sie von Anfang an hatte haben wollen: Sie war degradiert zu einem bebenden Bündel, einem verängstigten Tier gleichend, das alles mit sich geschehen ließ und nur noch darauf hoffte, dass das Ende schnell und schmerzlos kommen möge.
Sie wagte weniger denn je, den Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu blicken, doch aus den Augenwinkeln erhaschte sie eine Bewegung: Er zog ein Mobiltelefon aus der rechten Außentasche seines Anzugs und wandte es ihr zu. Es war eines dieser modernen Handys, das zum größten Teil aus einem Bildschirm bestand – einem Farbbildschirm, wie Dolores gleich darauf registrierte, denn nun erhellte er sich, und sie sah – sich selbst! Zumindest ihr Gesicht, das vom Schein einer Lampe erhellt wurde, die eine schattenhafte Figur, von der kaum mehr als ein dunkler Rücken zu sehen war, in der Hand hielt. Dolores erkannte die Szene sofort wieder.
Sie war in jener Nacht auf der Straße bei den Felsen gefilmt worden!
Dem Bildausschnitt nach musste sich die Kamera im Polizeiwagen befunden haben; entweder es handelte sich um eine automatische Aufnahme, oder es hatte sich ein zweiter Mann im Wagen befunden, den Dolores nicht bemerkt hatte. Wie auch immer – es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass ihr vor Erregung gerötetes Gesicht trotz der Winzigkeit des Bildschirms klar zu erkennen war.
»Es gibt auch einen Ton dazu«, klang Verdugos kratzende Stimme wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, »aber es dürfte kaum in Ihrem Interesse liegen, wenn ich ihn in dieser Umgebung zuschalte …«
Dolores hatte ein Schwindelgefühl ergriffen, etwa so, als ob sie zu viel getrunken hätte – oder als ob sie in der Irrealität eines Traums gefangen und sich dessen bewusst wäre, ihm aber dennoch nicht entkommen könnte. Zu keiner Regung fähig, starrte sie auf das Handy, wo ihr verkleinertes Abbild soeben in Tränen ausbrach. Alles Leid, alle Verzweiflung und alles Unrecht der Welt schienen in diesen Tränen zu liegen.
»Was – was verlangen Sie?«, brachte sie endlich hervor, als der Film zu Ende war und Verdugo das Mobiltelefon wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.
Der Fremde hob abwehrend beide Hände. »Nichts, rein gar nichts!«, versicherte er im gütigen Tonfall eines freundlichen Onkels, zu dem nur sein Gesicht und die Stimme nicht passen wollten. »Sie brauchen keine Angst zu haben; ich bin kein Erpresser oder so etwas Ähnliches. Wie ich schon sagte: Ich will Ihnen lediglich ein Angebot machen.«
Er lehnte sich wie zufällig zurück und sah sich dabei nach allen Seiten um; der geübte, sichernde Blick eines Mannes, der solche Situationen gewohnt war und der kein Risiko einzugehen pflegte. Das Bistro war nun beinahe leer; die Kellnerin machte sich an der Kasse zu schaffen.
Verdugo beugte sich wieder vor, stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte und sprach weiter, noch leiser als zuvor, in einem ruhigen, beinahe einschläfernden Tonfall.
»Lassen Sie mich folgendermaßen beginnen: Seit Jahrtausenden ist die Jagd der bevorzugte Sport des Menschen. In früheren Zeiten war sie überlebensnotwendig, später jedoch nicht mehr als eben ein Sport, wenn auch der gefährlichste – vorausgesetzt, die Chancen sind annähernd gleich verteilt – und damit auch der erregendste, für Jäger und Gejagte gleichermaßen. Und welches ist das gefährlichste Wild? Der Tiger, mit seiner Geschmeidigkeit, seinen scharfen Krallen und seinem Appetit auf Menschen? Der Elefant, aufgrund seiner Größe und seines sprichwörtlichen Gedächtnisses? Nein, das gefährlichste Wild war stets – und wird es immer bleiben – der Mensch! Der Mensch mit seiner Intelligenz und dem daraus resultierenden Einfallsreichtum! Auch ein nicht oder nur leicht bewaffneter Mensch kann einen besser ausgerüsteten Gegner besiegen, wenn er es klug anstellt. Ja, die Jagd ist ein Spiel mit hohem Risiko – und ebenso großen Chancen. Für beide Seiten.«
Dolores starrte ihr Gegenüber an. Wovon spricht er?, dachte sie hilflos. Doch dann blitzte etwas in ihrer Erinnerung auf, ein kurzer Satz nur, doch zweimal wiederholt.
Es war die dritte Jagd!
»Nun gibt es gewisse Leute«, fuhr Señor Verdugo fort, nicht ohne sich vorher noch einmal im Restaurant umzusehen, »die über genug Geld verfügen, um sich alles leisten zu können – wirklich alles! Dennoch sind sie nicht wunschlos glücklich, auch wenn die meisten Menschen sie wohl um ihr Problem beneiden würden. Und dieses Problem heißt: Langeweile! Um dieser abzuhelfen, haben sie ein Spiel erfunden, das sie ›Sklavenjagd‹ nennen. Es birgt, wie bereits erwähnt, für beide Seiten ein hohes Risiko, aber auch große Möglichkeiten. Die Regeln sind einfach