Das Schweigen der Familie. Ben Faridi

Das Schweigen der Familie - Ben Faridi


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Lorenzía. »Nicht, dass wir wüssten.« Sophia nickte zustimmend und aß den Rest des Desserts.

      Lorenzía entschuldigte sich kurz und ging ins Haus. Von der anderen Gartenseite rief ein Bekannter Delgado etwas zu. Er ging zu ihm und so war Baptista kurz mit Sophia allein. Sie lächelte verschämt. Dann wisperte sie kichernd und leise: »Der alte Bastelio hat ihm letzten Monat gedroht. Wegen des neuen Grundstücks. Aber sagen Sie bloß nicht, dass Sie es von mir haben.« Als Lorenzía wieder in den Garten kam, lachte Sophie übertrieben. In ihren Augen war aber eine kleine Träne zu sehen. Das war die erste Person, die um Francisco zu trauern schien. »Vielen Dank für Ihre Zeit«, verabschiedete sich Baptista. »Möglicherweise muss ich Sie in den kommenden Tagen noch einmal stören.« Delgado nickte seinem Bekannten kurz zu und ging mit Baptista zum Auto. »Meine Frau hat heute eine Barca für Sie gemacht. Sie werden begeistert sein. Das päppelt Sie auf.« Baptista wurde schon bei dem Gedanken an Essen übel. Dennoch wagte er nicht abzulehnen.

      Als sie in Delgados Haus eintraten, war Baptista erneut von dessen Frau fasziniert. Sie strahlte eine große Autorität und Ruhe aus. Dabei wirkte sie aber nicht abschreckend und herrisch, sondern würdevoll und erotisch. Eine winzige Handbewegung genügte ihr, um zu demonstrieren, wo man zu sitzen hatte. Oder ihrem Gatten den Unmut über die zu laute Musik zu zeigen.

      Baptista war nicht verheiratet, eine echte Seltenheit unter den Kollegen aus dem Kommissariat. Nicht, dass er keine Gelegenheit gehabt hätte. Doch sobald die Abenteuer etwas seriöser wurden, gab er seinem Beruf stets den Vorrang. Selbst würde er das nicht so formulieren. Er konnte sich einfach den traumatischen Erlebnissen nicht entziehen, die ihn im Kommissariat umgaben. Der Fall eines strangulierten Jungen ergriff ihn beispielsweise eines Tages so sehr, dass er einen geplanten Kurzurlaub nach Paris nicht antreten wollte und verfallen ließ. Solche Ereignisse führten früher oder später – meistens früher – zum Bruch der aufkeimenden Beziehung. Umso mehr genoss es Baptista, nun einer hübschen Frau gegenüberzusitzen.

      Delgado verhielt sich auffällig ruhig. Er sprach nicht über die Ermittlungen. Stattdessen brummte er gelegentlich ein zufriedenes Geräusch. Gegen neun Uhr klingelte es an der Tür. Der Bruder von Delgados Frau erzählte aufgeregt, dass der Strom in seinem Haus ausgefallen sei und er dringend das handwerkliche Geschick von Delgado bräuchte. Der ließ sich so geschmeichelt auch nicht lange bitten und ging mit seinem Schwager los. »Aber Sie bleiben doch noch zum Nachtisch!«, meinte Delgados Frau.

      Baptista war sich nicht sicher, wie unschuldig das klang. Für ihn war es trotz oder gar wegen des Fiebers eine höchst prickelnde Vorstellung.

      Senhora Delgado servierte eine köstliche Süßigkeit. »Wie lange werden Sie denn hier bleiben?«, erkundigte sie sich. »Wenn ich solche Köstlichkeiten vor mir habe, möchte ich nicht so schnell von hier fort.« Baptista meinte eigentlich das Dessert, wurde sich aber bewusst, dass er höchst doppeldeutig sprach. Er errötete. »Das Fieber treibt Ihnen die Hitze ins Gesicht«, meinte Senhora Delgado. »Sie gehören ins Bett und sollten sich pflegen lassen.« »Nichts wäre mir angenehmer. Aber dafür bin ich nicht die vielen Stunden aus Berlin nach Corvo geflogen.« »Leben Sie gerne in der Großstadt?« »Es hat sich so ergeben. Früher war es mir wichtig, heute hätte ich gerne mehr Ruhe. Aber meine Freunde leben in der Umgebung von Berlin oder Brüssel. Ich würde mich auf dem Land alleine fühlen.« »Sie würden dort neue Bekanntschaften schließen, glauben Sie mir.«

      Senhora Delgado rückte den Stuhl etwas näher und zündete einen Kerzenleuchter an. Die Dunkelheit senkte Baptista nun endgültig in ein Fieber-Delirium. Das Essen, der Alkohol, das Ziehen in den Lenden. Mit letzter Energie sprang er auf. »Ich muss dringend ins Bett.« »Ich begleite Sie. In Ihrem Zustand finden Sie den Weg ja nicht.« So liefen die beiden unter Sternen und leuchtender Mondsichel zum Hotel. Unterwegs wurde es Baptista dermaßen schwindelig, dass er sich auf eine kleine Mauer setzen musste. Als sie ihn hinauf in sein Zimmer gebracht hatte, legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein. Senhora Delgado zögerte kurz, dann zog sie ihn aus. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah. Lächelnd machte sie sich auf den Heimweg.

      Freitag, 14. Juni

      Am nächsten Morgen wachte Jao auf und wusste nicht mehr, wie er in sein Bett gekommen war. Er überlegte kurz, aber es blieb dunkel in seinem Gedächtnis. Jedenfalls hatte er einen Schlafanzug an. Hatte er sich alleine ausgezogen? Ihm wurde ganz heiß und kalt bei der Vorstellung, dass es Maria getan haben könnte. Seine Kopfschmerzen waren kaum noch zu spüren. Er war noch immer fiebrig, schien sich aber zu erholen. Erst als er aufstand und versuchte Luft zu holen, merkte er die Lungenentzündung: Ein tonnenschwerer Felsbrocken schien auf seinem Brustkorb zu liegen. Er konnte nur ganz flach hecheln. Als er sich die Zähne putzen wollte, hatte er das Gefühl zu ersticken. Diesen Tag würde er nur ohne Aufregung überstehen. Jeder Atemzug verursachte ein heftiges Brennen. Er machte alles ganz langsam, um keine intensiven Atemzüge zu provozieren. Aber der Arzt kommt heute, dachte er. Senhora Lancha wartete schon mit dem Frühstück auf ihn. »Heute gibt es ein Unwetter. Machen Sie sich auf etwas gefasst.« Baptista sah durch die Fensterscheiben einen blauen Himmel. »So schlimm kann es schon nicht werden.« Nach einer Viertelstunde traf Delgado ein. Baptista konnte nicht erkennen, ob er mit dem Verhalten seiner Frau einverstanden war, ob er überhaupt etwas davon wusste.

      »Gut, dass ich schon los bin. Gleich bricht es herunter.« Baptista schaute noch immer ungläubig. Dann wurde es dunkel. Senhora Lancha machte Licht an. Ein starker Regen prasselte schlagartig auf die trockene Straße. Man konnte nichts mehr sehen und sich nur lautstark unterhalten. Blitze zuckten am Himmel. »Der Arzt wird dann heute wohl ausfallen«, meinte Senhora Lancha. Baptista gab innerlich auf. Er wollte weinen. Wie sollte er das aushalten? Senhora Lancha schien das alles nicht weiter zu beeindrucken. Mit beiläufiger Stimme sagte sie: »Dabei hätte ich ihn wegen meines Ischias doch so dringend gebraucht. Aber nächste Woche wird er sicher kommen.« »Haben Sie irgendwelche Schmerzmittel?«, fragte Baptista verzweifelt. »Bei Amarals gibt es sicher etwas«, sagte Delgado.

      Baptista ging nach oben, um eine Jacke zu holen. Als er die Tür hinter sich schloss, hörte er wieder, wie sich Senhora Lancha und Delgado wispernd unterhielten. Alle wissen etwas, dass ich nicht weiß, dachte er. Er drückte sein Ohr an die Tür, wie in der Schule, als er ein Mädchen belauschen wollte. Aber er verstand nichts. Baptista nahm die Jacke und ging wieder hinunter. Als er die Tür öffnete, konnte er doch etwas aufschnappen: »... das Auge des Raben ist ein Unglück für ... ruhig. Er kommt.« »Es hat aufgehört zu regnen, Baptista. Wir können zu Pão fahren. Der Sturm richtet keinen Schaden an.« Sie gingen zu Delgados Auto. Baptista war sehr froh, als er saß. Sie fuhren aus Vila Nova raus in Richtung Vulkan. Auf der einzigen Landstraße der Insel gab es eine Vielzahl von Schildern für Touristen.

      »Bei besserem Wetter kann man auch zu Fuß hier hoch. Jedenfalls machen dass einige Touristen.« Sie fuhren noch einige hundert Meter die Serpentinen nach oben als Delgado an einer scharfen Kurve unvermittelt auf einen Parkplatz fuhr und ausstieg. »Das ist der Miradouro do Sitio do Portao. Von hier hat man einen hervorragenden Ausblick. Das dort ist Vila Nova und die Hafenbucht. Herrlich, nicht wahr?« Baptista war überwältigt von dem fantastischen Ausblick, der sich trotz des schlechten Wetters bot. Vila Nova und der Hafen erweckten den Eindruck, vom Meer an Land gespült worden zu sein und am Vulkan nur vorläufig zu haften. Es schien, als könnte die nächste Welle alles wieder mit in die Tiefe reißen. Die beiden standen verzückt auf dem Parkplatz und schauten in das Tal. »Kommen Sie, wir sollten weiter. Pão mag es nicht, wenn man zur Mittagszeit kommt.«

      Baptista vermied es zu sprechen, weil jedes Atmen ihm große Schmerzen bereitete. So stieg er einfach wortlos in das Auto. Dann fuhren sie wieder rund zehn Minuten. Baptista schloss die Augen, um sich auf das ruhige Ein- und Ausatmen zu konzentrieren. So sah er den überwältigenden Blick in den Vulkankrater nicht. Schließlich hielt Delgado am Südwest-Zipfel der Insel an. »Das letzte Stück gehen wir besser zu Fuß. Mein Wagen ist schon einmal in den ausgewaschenen Furchen des Weges stecken geblieben«, sagte Delgado. »Was sind das für schwarze Dinger dort?« »Windmühlen. Sie sind aus schwarzem Basalt gemacht. Und die dreieckigen Segel betreiben im Inneren die Mühle. Die Kuppel ist besonders raffiniert gelagert und dreht sich im Wind.« »Werden die Mühlen noch benutzt?« »Aber sicher. Der verrückte Pão hat sich einen Anbau an eine der Mühlen gemacht


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