Die Musik der Zukunft. Robert Barry
Robert Barry
Die Musik der Zukunft
Aus dem Englischen von
Robert Zwarg
FUEGO
- Über dieses Buch -
Für Charles Fourier gab es keine Utopie ohne Musik. Der französische Dramatiker und Saint-Simonist Charles Duveyrier träumte von einer Stadt als Klangkörper, einem im Zentrum gelegenen Soundtempel. Hugo Gernsback ersann eine telematische Oper. Bertold Brecht wollte das Publikum singen lassen, die Futuristen eine neue Geräuschkunst erfinden und John Cage den Klang befreien. Doch was ist heute die Musik der Zukunft?
Die Streamingdienste sorgen dafür, dass der Einzelne immer von Musik umgeben ist, und versuchen, sich auf technischem Wege an das Individuum zu assimilieren. Begonnen hat diese Art des Generierens von Playlisten 1994 mit einem Programm namens »Ringo«: die erste Software, um Musik dem Geschmack des Hörers anzupassen, zu filtern, zu steuern. Das funktionierte zunächst simpel mit Bewertungen, die der Nutzer abgibt. Der Weg bis zur heutigen Nutzung von Spotify, Deezer, Tidal & Co war aber noch weit: Heute sollen Algorithmen sich der körperlichen Aktivität, der Psyche des Hörers anpassen.
»Es geht Robert Barry gar nicht so sehr um die Musik selbst, sondern um das Denken über Musik und wie dieses Denken Musik verändern kann. Er sucht nach musikalischen Utopien, durch die Musik ein zukunftsweisendes Potential entfalten kann, das offenbar verloren gegangen ist. Und um diese futuristischen Qualitäten wiederzufinden, lohnt es sich, in die Vergangenheit zu blicken… Die Musik der Zukunft ist äußerst lesenswert, gut recherchiert und unterhaltsam geschrieben.« (Raphael Smarzoch, Deutschlandfunk)
»Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie wird neu geschrieben. Robert Barry zeigt sich als stiller Realist, der die utopischen Visionen der Vergangenheit zusammenfasst und damit auch indirekt die Frage stellt, wie und vor allem wieso dieser ehemalige Drang nach Veränderung, dieses Potenzial der imaginierten Zukunft heute abhandengekommen ist.« (Christoph Benkeser, fixpoetry)
Für Thanh Mai
Präludium: 2016
Es ist der 3. Mai 2016, ungefähr Viertel vor elf, und ich bin in einer Bar des Studentenzentrums Zagreb. Das Gebäude stammt aus den Dreißigerjahren und wurde ursprünglich für eine internationale Handelsmesse gebaut. Seit der Gründung des Zentrums 1957 ist der Ort ein kultureller Knotenpunkt der Universität. Vor achtzig Jahren waren das Atrium, in dem ich stehe, sowie das sich anschließende &TD Theater, Teil des italienischen Pavillons der Messe. Entworfen wurde das aus brutalistischen Betonblöcken bestehende modernistische Gebäude von dem florentinischen Architekten Dante Petroni. Heute findet hier eine andere Art Festival statt: der Showroom of Contemporary Sound (Izlog Suvremenogs Zvuka), ein einwöchiges Festival mit Konzerten, Kunstinstallationen und Vorträgen, das moderne, zeitgenössische Komponisten und Improvisationsmusiker aus der ganzen Welt zusammenbringt.
In den kommenden Tagen sehe und höre ich Künstler, die kompromisslos aus jeder erdenklichen Richtung an die Grenzen der Musik gehen. Glühbirnen werden in einer flackernden Choreographie arrangiert, zwei surrende, zischende Taser verwandeln sich in ein schief tanzendes Winkeralphabet und wie in einer Collage werden die Alltagsgeräusche der Stadt Teil einer treibenden Klanglandschaft, verzaubert durch die verwandelnden Kräfte digitaler Bearbeitung. In einer Pause zwischen zwei Konzerten spreche mit einem hiesigen Programmierer und Doktoranden namens Antonio Pošćić. Inspiriert von dem Konzert, das gerade zu Ende gegangen war, vertieften wir uns in eine Unterhaltung über das Schreiben, Musik und Codes. Er ist hier, um das Festival für einen Free-Jazz-Blog zu besprechen; ich bin hier, weil ich am Nachmittag einen einstündigen, eher ausschweifenden und nur zum Teil kohärenten Vortrag über »Die Musik der Zukunft« gehalten habe.
In meinem Vortrag an der Akademie der Musik am anderen Ende der Stadt hatte ich versucht, eine Linie von einem Artikel aus dem Jahr 1852, worin Robert Schumann, Hector Berlioz, Franz Liszt und Richard Wagner als »literarische Musiker« beschrieben werden – also Musiker, die sowohl kritische Texte über Musik geschrieben als auch Musik komponiert haben – hin zu zeitgenössischen Musikerinnen wie Holly Herndon und Jennifer Walshe zu ziehen, die sich mit dem transformativen Potenzial des Internets auseinandersetzen, nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in ihren Aussagen über diese Musik. Ich war auf der Suche nach Wegmarken eines gleichsam spekulativ erdachten Kontinuums, in dem das Nachdenken über Musik in und durch die wichtigsten Medien der jeweiligen Zeit (angefangen vom explodierenden Zeitungswesen bis hin zum Internet) zu einem Werkzeug wurde, um die musikalische Praxis als solche zu verändern und den Weg in die Zukunft der Kunstform freizumachen.
Allerdings hatte ich die vielleicht unüberlegte Entscheidung getroffen, den Vortrag frei zu halten, ohne Vorlage oder auch nur ein paar Notizen. Außerdem war ich etwas nervös, in einem akademischen Kontext zu sprechen, fernab meiner gewohnten Umgebung von popkulturellen Webseiten und Hochglanzmagazinen. Am Ende sprang ich in meinem Vortrag chaotisch von einer Idee zur nächsten, erging mich in langen Abschweifungen und spulte dann wieder zurück zu Aspekten, die ich vorher vergessen hatte. Danach erzählten mir die Leute, es sei »interessant« gewesen, wenn auch nicht immer vollkommen verständlich.
Auf die Diskussion im Anschluss war ich noch weniger vorbereitet. Nicht so sehr, was die Fragen aus dem Publikum betraf. Das war okay. Die Fragen waren schlau, interessant, herausfordernd, engagiert und überschaubar. Was mich aus der Fassung brachte, waren die – in der Rückschau vielleicht unvermeidlichen – Fragen jener Leute, denen es weniger um den Vortrag als solchen ging, sondern um den Titel, den sie für bare Münze genommen hatten.
Bald befand ich mich mitten in einem Interview mit einer kroatischen Reporterin, die mir ein Mikrofon vor das Gesicht hielt und entwaffnend höflich mit einem Lächeln fragte: »Was wird denn die Musik der Zukunft sein?«
»Ich bin kein Wahrsager«, verteidigte ich mich. »Was mich eigentlich interessiert hat, ist die Art und Weise, wie Komponisten der Vergangenheit mit der Idee der Zukunft Veränderungen in unserem Verständnis von Musik bewirkt haben, die wir bis heute spüren.« Und schon sehe ich einen gewissen ratlosen Blick bei meiner Gesprächspartnerin, ein Blick, den ich als Journalist sehr gut kenne: Wie soll ich daraus eine verdammte Überschrift machen?
Doch in dem Gespräch mit Antonio am Abend nach dem Vortrag, voller Selbstbewusstsein durch die zweite (oder dritte?) Flasche Ožujsko, fällt mir plötzlich ein, wie ich den Gedanken, den ich in meinem Vortrag vermitteln wollte, besser ausdrücken kann. Fast schon unhöflich unterbreche ich meinen neuen Freund mitten im Satz und beginne, ohne Punkt und Komma zu reden.
»Ich glaube, worum es mir vorhin ging«, setze ich an, »ist eine Idee von Musik, die ausreichend selbstbewusst ist, um zugleich Kritik zu sein – und umgekehrt, eine Art von Kritik, die zumindest darauf hoffen kann, Eigenschaften der Musik anzunehmen.«
Antonio runzelt ein wenig die Stirn. Ich spreche einfach weiter. »Das Wichtige an Komponisten wie Wagner oder Liszt ist nicht nur ihre Musik, sondern all die Geschichten drumherum. Diese Dinge sind kein Hindernis auf dem Weg zu einem richtigen Verständnis des angeblich echten oder authentischen Wagners, sondern sie führen selbst in ganz unterschiedliche, interessante Richtungen. Wir brauchen Leute – egal ob Kritiker, Komponisten oder andere Künstler –, um diese Geschichten und Märchen zu erfinden, um Fehler zu machen und Dinge falsch zu verstehen. Die Leute sollten ihre Werke gegenseitig missbrauchen, sie mit Dingen in Verbindung bringen, in deren Nähe sie niemals kommen sollten, genauso wie wir von Künstlern erwarten, dass sie die Technologie auf eine Weise nutzen, für die sie nicht vorgesehen war, gegen die Intention ihres Erfinders; denn genau dort kommen neue Ideen und neue Wege her, aus Fehlern und Missbrauch und allgemeinen Missverständnissen.«
Am nächsten Tag schickt mir Antonio ein Zitat aus Tom Arthurs Doktorarbeit The Secret Gardeners: An Ethnography of Improvised Music in Berlin (2012-13): »Abgesehen von ein paar engagierten Blogs und Spezialpublikationen«, schreibt Arthur, »gab es nur sehr wenig Musikkritik und viele Künstler beklagten sich über das ›miserable Niveau des Journalismus‹ (...), kaum ein Musiker