Zuhause wartet schon dein Henker. Franziska Steinhauer
»›Engel der Finsternis‹ heißt die Sekte. Er zieht sich schon seit Jahren so an, färbt die Haare tiefschwarz. Mein Mann war natürlich wenig begeistert. Der Sohn des Pfarrers verherrlicht Tod und Teufel. Die Leute haben das aber zum Glück anders gesehen, für sie war es eben eine pubertäre Phase, die sich verlieren würde.«
»Dein Mann hat heute eine Tour mit Hausbesuchen absolviert. Wann kommt er in der Regel an solchen Tagen zurück?«, kehrte Lundquist zur Mordermittlung zurück.
»Es dauert, so lange es dauert. Man kann nicht ahnen, was die Menschen besprechen wollen. Mal ist er früh zurück, manchmal erst nach dem Abendessen.«
»Dein Sohn hat geschlafen und du warst auch nicht hier?«
»Heute hatte ich meinen Kurs an der Volkshochschule. Und Olaf arbeitet seit zwei Wochen ab vier Uhr morgens auf dem Großmarkt. Wenn er zurückkommt, schläft er. Zum Glück ist das Praktikum ab nächstem Montag vorbei.«
»Einen Kurs an der Volkshochschule? Zu welchem Thema?«
»Die Heilkraft der Kräuter. Pfefferminze und Kamille kennt jeder – aber bei mir lernt man, welches Kraut bei welchen Beschwerden Linderung verschafft und in welcher Dosierung man es verwenden darf. Ist immer bis auf den letzten Platz belegt.«
»Als du nach Hause gekommen bist, hast du deinen Mann im Garten gefunden.«
»Nein, nicht gleich. Ich habe meine Materialien weggeräumt, einen Tee aufgegossen. Erst als ich mich mit der Tasse hier oben ans Fenster gestellt habe …« Ulrika atmete tief durch. »Nun, da sah ich, was dort im Garten lag. Ich lief hin, er war bereits tot. Also verständigte ich die Polizei.«
Lundquist fühlte sich in der Nähe der Witwe zunehmend unbehaglich. Im Laufe der Jahre hatte er viele Hinterbliebene erlebt – aber kaum jemanden darunter gehabt, der so emotional unbeteiligt wirkte wie Ulrika.
»Wie würdest du eure Ehe beschreiben?«, war folgerichtig seine nächste Frage.
Die Witwe lachte unfroh. »Weil Frauen in der Regel ihre Gatten umbringen? Wenn sie ihnen lästig geworden sind und im Weg rumleben? Sicher, auch ich gehöre zu den unzähligen Ehefrauen, die von Beziehung und Leben enttäuscht wurden. Eine von denen, die ein langweiliges und oft genug freudloses Dasein fristen. Kennst du das? Man nimmt sich vor, endlich einen Schlussstrich zu ziehen, schiebt es doch immer vor sich her. Begründungen gibt es viele. Die Kinder, die Hoffnung, es könne sich alles noch zum Guten wenden … Und irgendwann wachst du auf, stellst fest, dass du alt geworden bist, eine Scheidung sich im Grunde nicht mehr lohnt. Wie soll ein Neuanfang jetzt noch aussehen? Vom Herd ins Pflegeheim. Erfüllung findet man ab einem bestimmten Alter eben nicht mehr. Es gibt unzählige Frauen wie mich, die im Grunde um Glück, Freude und Leben von ihren Gatten betrogen wurden.«
Lundquist sah betroffen auf seine Schuhspitzen. Hoffte inständig, seine Frau Magda möge ihre Ehe nicht auch so sehen. Er fror. Wünschte, er könnte die nasse Kleidung ausziehen und einen heißen Tee trinken. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Lars mit den Händen über die Oberarme rieb. Er empfand es also ähnlich.
»Ihr hattet euch entfremdet?«
»Ja, so könnte man es vielleicht auch nennen. Arne war schwierig, hatte seine Prinzipien, sparte eisern, erzog die Kinder mit zu viel Strenge. Aber so weit voneinander entfernt, dass ich ihn töten würde? Eher nicht.«
»Und sein Verhältnis zu den Kindern?«
»Frag sie selbst. Da! Sie kommen gerade!«
Tatsächlich hörten Sven und Lars eilige Schritte auf der Treppe. Leise. Auf Strümpfen.
Wieder wurde die Tür ungestüm aufgerissen.
Diesmal erschien ein rundes, gerötetes Gesicht, umrahmt von wilden blonden Locken.
»Mor! Das ist doch wieder so ein geschmackloser Scherz von Olaf, oder?«
Das Mädchen, klein und stämmig, rannte auf die Mutter zu und warf sich ihr in die Arme.
»Jemand hat Far umgebracht? Bei uns im Garten? Das ist doch bloß eine von Olafs blöden Geschichten, nicht wahr?« Tränen kullerten über seine Wangen, es schniefte laut. »Alles Quatsch, nicht wahr?«, insistierte das Mädchen flehend.
Ulrika hielt ihre Tochter auf Armlänge von sich weg, sah ihr direkt in die Augen. »Nein«, sagte sie dann, »es stimmt!«
Mit einem erneuten Aufschluchzen warf sich die Tochter wieder an die Brust der Mutter, die von dieser heftigen Reaktion offensichtlich überrascht war und es erst im letzten Moment schaffte, die Arme so weit auszubreiten, dass sie das Mädchen auffangen konnten.
»Siehst du«, triumphierte der Bruder und fläzte sich in den Sessel zurück, »ich habe keinen Blödsinn gequatscht. Und die beiden hier sind von der Polizei und wollen den Mörder schnappen.«
Sven gefiel der Ton des Jungen nicht.
Er beschloss, das Gesagte nicht zu kommentieren. Vielleicht war diese distanzierte Art ja Olafs Strategie, mit der Situation umzugehen, ohne selbst Schaden zu nehmen.
»Hattest du ein gutes Verhältnis zu deinem Vater?«, erkundigte sich Lars mit gedämpfter Stimme.
Olafs Augen huschten hektisch zu Schwester und Mutter.
»Hat sie das behauptet?«, fragte er aggressiv zurück und zeigte mit dem Finger auf die Witwe.
Knyst schüttelte den Kopf. »Nein. Ulrika meinte, wir sollten dich selbst danach fragen. Also?«
»Nein, hatte ich nicht. Er war anstrengend. Gegen seine Regeln durfte man nicht verstoßen – blöd nur, dass die sich ständig änderten oder neue hinzukamen, natürlich ohne Vorwarnung und ohne, dass sie für ihn ebenfalls gültig gewesen wären. In den letzten Wochen hatte ich so viel Hausarrest, dass meine Freunde sich gar nicht mehr mit mir verabredet haben. Wir halten Kontakt über SMS und Whatsapp, da kann man spontaner reagieren und Zeiten nutzen, die zufällig gerade nicht gesperrt sind.«
Hass loderte in den Augen Olafs.
»Es ist wahr«, mischte sich die Schwester flüsternd ein, »er war kein netter Vater. Streng. Geizig, lieblos. Aber es tut mir leid, dass er nun nie wieder bei uns sein kann. Trotz allem!«
»Trote allem?«
»Ja! Olaf sagt die Wahrheit. Es war schwierig, mit ihm auszukommen. Es ist mir unbegreiflich, wie manche Leute ihm ihr Herz ausschütten und ihre Probleme anvertrauen konnten. Die haben sich wirklich eingebildet, ihre Schwierigkeiten könnten ihn interessieren, fühlten sich sogar verstanden, getröstet. Dabei hat er die immer gleichen Ratschläge gegeben – und die klangen wie aus einem dieser Abreißkalender. ›Halte durch und du wirst dein Ziel erreichen!‹, ›Rette, was sich zu retten lohnt, aber wäge gut ab‹. Sein Standardspruch bei Ehekrisen. Keiner scheint bemerkt zu haben, dass sein Repertoire stark begrenzt war.« Esther putzte sich die Nase. Sie hatte sich in Wut geredet. Merkte es und atmete tief durch. »Und doch war er Teil dieser Familie. Er wird nie mehr mit uns am Tisch sitzen und streiten, nie mehr ungerecht über uns und unsere Freunde urteilen, keine bösen Kommentare abgeben. Er wird uns allen fehlen.«
»Er wurde ermordet«, stellte Lundquist klar, weil ihm schien, die Familie habe diesen Aspekt gänzlich aus den Augen verloren. »Jemand muss ihn also so sehr gehasst haben, dass er ihn auf diese spektakuläre Weise sterben lassen wollte. Fällt euch jemand ein?«
»Hans Hansson!« Olaf zuckte gleichgültig mit den Schultern, als er dem strafenden Blick Ulrikas begegnete. »Was? Ist doch wahr!«, fauchte er.
»Man soll niemanden leichtfertig verdächtigen!«, mahnte die Mutter scharf.
»Wer ist dieser Hans Hansson?«, fragte Lundquist nach.
»Er ist eigentlich ein Freund meines Mannes. Allerdings haben sich die beiden in letzter Zeit heftig gestritten. Mehrfach. Sah nach einem ernsten Zerwürfnis aus.«
»Weißt du, worüber sie uneins waren?«
»Nein. Ich habe nicht gefragt.« Sie lächelte