Überleben als Verpflichtung. Inge Deutchkron
nge Deutschkron
Überleben als Verpflichtung
Inge Deutschkron
Überleben als Verpflichtung
Den Nazi-Mördern entkommen
Butzon & Bercker
„Orientierung durch Diskurs“ Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Tobias Licht, Susanne Sandherr, Johannes Bernhard Uphus und Marc Witzenbacher. |
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ISBN 978-3-7666-1398-1
E-BOOK ISBN 978-3-7666-4131-1
EPUB ISBN 978-3-7666-4132-8
© 2010 Butzon & Bercker GmbH, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de
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Umschlagfoto: © Margrit Schmidt
Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern
Satz: Schröder Media GbR, Dernbach
Printed in Germany
Inhalt
Kurzbiographie – Ein Todesurteil und vier Leben
Jugend – was war das?
Erinnerungen an zwei Finsterwalder Jungen
Die deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit
Mit den Jahren wuchsen die Zweifel
Denn ihrer war die Hölle. Kinder in Ghettos und Lagern
Drohbrief an Inge Deutschkron von 1973
Ausgeschlagene Erbschaft – eine Deutschstunde
Überleben – eine Herausforderung
Die ewige Muttersprache
Das verlorene Glück des Leo H.
Die politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel – eine Bilanz
Die deutsche Nachkriegsgeneration und Israel
Hoffnung auf eine neue Generation
So entstand „Sara“
Kinder schreiben Briefe an eine Achtzigjährige
„Wie aber wird es morgen sein?“
„Stille Helden“
Endspurt – Überleben in Berlin 1943 – 1945
Vorwort
Sie holten sie aus ihren Wohnungen, aus den Fabriken, wo sie zu Zwangsarbeit verurteilt waren, nahmen sie, wo und wie sie sie fanden im Arbeitskittel, ohne Mantel, im Schlafanzug nach einer Nachtschicht. Kleinkinder torkelten an der Hand ihrer Mütter einher, junge Burschen schritten aus, als wollten sie es schnell hinter sich bringen, Männer gingen geduckt unter der Last ihres letzten Besitzes. Vom Fenster aus sah ich sie, sehe ich sie noch heute, in ihrem Erschrecken wie erstarrt, von Polizeibeamten, SS-Leuten, Zivilbeamten in die Wagen gestoßen. Die Aktion dauerte einige Tage. Dann waren sie alle fort – meine Familie, meine Freundinnen, Otto Weidts Blinde. Wir hatten keinen Schrei gehört, sahen kein Aufbegehren. Da liefen nur Gestalten, deren Ziel bestimmt zu sein schien. Des Nachts sah ich sie wieder vor mir und dachte an sie. Wo nur waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen?
Nichtjüdische Freunde boten meiner Mutter und mir an, uns zu verstecken. Sie riskierten ihren Kopf für uns. Zwei Jahre und vier Monate dauerte dieses Leben von einem Versteck zum anderen. Weder unsere Freunde noch wir hatten vorausgesehen, wie schwer es sein würde. Doch sie brachten uns durch.
Mein Vater, der kurz vor Kriegsbeginn nach England fliehen konnte, beantragte unsere Einreise. Ein Jahr lang mußten wir in Berlin auf das Visum warten. Emigranten begleiteten meinen Vater zu unserer Ankunft in London. Ich sah es sofort: Für sie waren wir Abgesandte ihrer ermordeten Angehörigen. Sie kämpften mit Tränen und wieder empfand ich Schuld wie damals, als ich das Schicksal der Deportierten nicht teilte.
Die Schuld wich schließlich der Sprachlosigkeit, als die Menschen in Nachkriegsdeutschland zu mir sagten „Vergessen Sie doch“, wenn sie mich nicht anders zum Schweigen bringen konnten. „Sie müssen doch auch vergeben können“, meinten sie, „es ist doch schon so lange her.“ Die meisten, denen ich begegnete, hatten sie einfach aus ihrem Gedächtnis gelöscht, die Verbrechen, für die der deutsche Staat eine eigene Mordmaschinerie hatte errichten lassen.
Da wußte ich plötzlich, was meine Pflicht war: Ich mußte es niederschreiben: die Wahrheit der schrecklichen Geschehnisse, präzise und emotionslos. Es ging mir nicht darum, daß die Schuldigen einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber suchten. Ich war wie besessen von der Idee, daß Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe, daß Menschen anderen Menschen das Recht auf Leben streitig machen können, ganz gleich, welcher Hautfarbe, welcher Religion, welcher