Chimära mensura?. Группа авторов

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Konferenzen“ zu konstatieren, heißt es in „Der Zeit“.64 Schon ist die Rede vom „animal turn“65, der das „Proletariat durch Tiere“66 ersetze oder zumindest die marxistisch gedachte Arbeiterklasse um Tiere zu erweitern gedenke.67 Auch ein konservativer Philosoph wie Peter Sloterdijk spricht von einer „unvermeidlichen Ausbeutungsverschiebung des Fossilenergiezeitalters“, die „ein neues Proletariat geschaffen [habe], mit dessen Leiden die entlasteten Zustände im [menschlichen, d. Verf.] Wohlstandspalast ermöglicht“ würden. Er schließt an: „Das Hauptgewicht der aktuellen exploitation ist auf die Nutztiere übergegangen, für welche dank der Industrialisierung der Landwirtschaft die Ära ihrer massenhaften Erzeugung und Verwertung angebrochen ist.“68 Selbst Fragen, ob Tiere aus emanzipations-historischer Sicht die „neuen Frauen“69 oder gar „die besseren Menschen“70 seien, werden bereits gestellt. Der US-amerikanische Gender- und Queer-Theoretiker Jack Halberstam plädierte unlängst dafür, das Wort „queer“ durch das Wort „wild“ zu substituieren, weil ersteres allzu domestiziert sei, und stattdessen von „wild theory“ zu sprechen.71

      Der Schäferhund-Hoax steht in einer langen und wichtigen Tradition von Wissenschaftshoaxes, die an dieser Stelle nicht eingehender gewürdigt werden können. Es sei an den Hänsel-und-Gretel-Hoax von Hans Traxler oder an den Randi-Hoax erinnert.72 Weitere ähnlich angelegte negative Science Hoaxes waren: der „Mechanical Turk“, Schachtürke oder kurz Türke. Er ist die umgangssprachliche Bezeichnung für einen vorgeblichen Schachroboter, der 1769 von dem österreichisch-ungarischen Hofbeamten und Mechaniker Wolfgang von Kempelen konstruiert und gebaut wurde. „Beavers on the Moon“ war der große Astronomie-Hoax des Jahres 1835.73 Shinichi Fujimura, ein japanischer Amateurarchäologe, nahm für sich in Anspruch, eine Vielzahl von Artefakten aus dem jungen und mittleren Paläolithikum entdeckt zu haben. Die Funde erwiesen sich im Jahr 2000 als Fälschungen. „The Piltdown Man“: unter diesem Namen wurden die angeblichen Überreste eines Frühmenschen bekannt, die vor 1912 in einer Kiesgrube bei dem Dorf Piltdown in der Nähe von Uckfield in Südostengland gefunden und 1953 als wissenschaftliche Fälschung entlarvt wurden. Der wichtigste Hoax, an den sich der Schäferhund-Hoax anlehnen kann, wurde von Alan Sokal inszeniert. 1996 sorgte der New Yorker Physiker für ein Beben in der akademischen Welt. In der renommierten Zeitschrift „Social Text“ kündigte er nicht weniger als eine „kulturalistische Wende in der Physik“ an. Sein Essay trug den Titel „Trangressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“.74 Er nahm darin gekonnt aktuelle Trends, Thesen und Duktus der kulturalistisch gewendeten Geistes- und Sozialwissenschaften auf und schien damit eine Brücke zwischen den beiden „Wissenschaftskulturen“ geschlagen zu haben. Er schrieb etwa:

       „Es ist zunehmend offenbar geworden, dass die physikalische ‚Realität‘ nicht weniger als die soziale im Grunde ein soziales und linguistische Konstrukt ist; dass das naturwissenschaftliche ‚Wissen‘ – weit davon entfernt, objektiv zu sein – die herrschenden Ideologien und die Machtverhältnisse jener Kultur widerspiegelt, die dieses Wissen hervorgebracht hat.“ 75

      Diese Hoffnung aber brach schnell in sich zusammen, denn Sokal enthüllte seinen Aufsatz als Parodie auf den „eleganten Unsinn“, der im Begriff sei, die Geistes- und Sozialwissenschaften zu erobern.76 Daraufhin erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der es bis auf die Titelseiten der New York Times brachte. Die Entrüstung traf zum einen die Zeitschriftenherausgeber, die „offenbar den Text nicht begriffen hatten, den sie abdruckten“ und zum anderen galt die Entrüstung gleichermaßen der Bereitschaft eines größeren Teils der neueren Kultur- und Geisteswissenschaften, „im Dienste linker emanzipatorischer Anliegen wissenschaftliche Standards beiseite zu setzen“.77 Das ist auch ein Grund dafür, warum der Sokal-Hoax vor 20 Jahren breit in den Medien und Feuilletons rezipiert wurde, allerdings schon weniger in der englischsprachigen akademischen Welt, und in der deutschsprachigen noch weniger.

      Der Sokal-Hoax hielt den Siegeszug des „cultural turn“ nicht auf, ja vermochte ihn vermutlich nicht einmal zu bremsen. Der Kulturalismus gewann in den 1990er Jahren die „Lufthoheit über den Lehrstühlen der akademischen Welt und drang weit in das öffentliche Denken vor.“78 Mit seinen Abkömmlingen, dem „linguistic turn“ und dem „anthropological turn“, eroberte er die Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaften. Diese Entwicklung setzte sich in jüngerer Zeit im „animal turn“ fort und forderte den Schäferhund-Hoax heraus.79 Insofern waren wir froh, dass Peter Boghossian ein Vorwort beigesteuert hat, in dem er seine Sicht auf Science-Hoaxes und wie mit ihnen umzugehen sei, entwirft. Boghossians „Conceptual-Penis“-Hoax sorgte international für Aufmerksamkeit was auch in seinem Fall darauf hindeutet, dass ein Nerv getroffen wurde, einige Leute davon wirklich geärgert waren und somit der nicht unumstrittene „Skeptiker“ Boghossian also auch einiges richtig gemacht haben dürfte.80 Der hier behandelte Hoax hat diese Aufmerksamkeit nicht erfahren. Die prominente HAS-Vertreterin Margo DeMello hat in ihrem Vorwort zum HAS-Einführungsband den Hoax zwar als einleitenden Aufhänger genommen, ihn kurz beschrieben und dann rhetorisch gefragt, ob die HAS wirklich vielleicht nichts weiter als eine akademische Modeerscheinung seien, die beim Auftauchen der nächsten modischen Disziplin verschwinden würde. Als Antwort auf die selbstgestellte Frage konnte sie nur anbringen: „I would say no to that.“81

      Boghossian ist zuzustimmen, dass Science-Hoaxes ethisch wichtig und wertvoll sind. Sie sind ein Teil der wissenschaftlichen Kommunikation. Nicht nur in der Politik und der Wirtschaft, in einer Welt der Fake News und Unübersichtlichkeit haben Leaker und Whistleblower an Bedeutung gewonnen, sondern auch in der Wissenschaft scheint es einen Bedarf nach ähnlichen Figuren, die als Korrektiv wirken können, zu geben. Wissenschaftliche Forschung wird zum großen Teil noch immer über öffentliche Mittel finanziert, womit eben auch die interessierte Öffentlichkeit ein Recht hat, umfassend informiert zu werden, was im akademischen Sektor vor sich geht. Aufgrund der Spezialisierung der Fächer wissen dies mitunter auch die in der Wissenschaft tätigen Menschen nur in begrenztem Umfang. Elizabeth S. Goodstein hat jüngst in ihrer famosen Arbeit über Georg Simmel noch einmal auf dessen Bemühungen hingewiesen, jenseits aller Disziplinarität auch übergeordnete Fragen nicht aus dem Blick zu verlieren.82

      Natürlich gibt es auch eine negative Seite von Science-Hoaxes, etwa wenn es um Tricksereien, Irreführungen oder bewusste Betrügereien geht. Diese können aus den verschiedensten Gründen gemacht worden sein. Oftmals dürfte dahinter der Druck gestanden haben, endlich die „richtigen“, zum Projekt passenden Forschungsdaten parat zu haben oder um persönliche Eitelkeiten, also darum, Aufmerksamkeit, Reputation und Gelder zu gewinnen.83 Der Sozialpsychologe Oliver Lauenstein wird sich in seinem Beitrag diesem Thema intensiver widmen und eigene Akzente setzen.

      Kritisch hingegen sehen wir Boghossians Einstellung zu den Gender Studies. Diese bieten sowohl reichlich Anlass zu Kritik84 als auch wissenschaftlich und gesellschaftlich außerordentlich relevante Ansätze. Sie wirken schon seit längerer Zeit über die eigentlichen Kulturwissenschaften hinaus. Ende 2003 beschlossen etwa die medizinische Fakultät der Freien Universität und der Humboldt-Universität, die Charité-Universitätsmedizin Berlin, die Gründung des ersten Zentrums für Geschlechterforschung in der Medizin in Deutschland. Dessen Aufgabe ist

       „die Förderung der Geschlechterforschung in der universitären Medizin und die Integration der Forschungsergebnisse in die medizinische Ausbildung. Geschlechterforschung in der Medizin ist ein neuer, innovativer Wissenschaftsbereich, in dem biologische Grundlagen von Gesundheit und Krankheit, die Auswirkung von Geschlechterunterschieden auf Krankheitsentstehung und -verlauf und ihre Rolle in der Krankenversorgung untersucht werden. Daneben sind medizin-soziologische Aspekte wie unterschiedliche Wahrnehmung von Gesundheit und Krankheit von und bei Frauen und Männern, unterschiedliche Bedeutung präventiver und kurativer Ansätze bei Frauen und Männern und geschlechtsspezifische Aspekte in neuen medizinischen Themengebieten wie Reproduktionsmedizin und regenerativer Medizin (Organersatz) von Bedeutung“. 85

      Kurzum: so sehr man auch Sektoren der Gender Studies konstruktiv kritisieren mag, so kann man nicht über die positiven Ergebnisse des gesamten Feldes hinwegsehen. Schließlich bedeutet etwas


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