Grundbegriffe der Ethik. Gerhard Schweppenhäuser

Grundbegriffe der Ethik - Gerhard Schweppenhäuser


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      Gerhard Schweppenhäuser

      Grundbegriffe der Ethik

      Reclam

      2006, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Coverabbildung: Foto der Plastik Le Peuseur (entstanden zwischen 1880 und 1882) von Auguste Rodin (1840–1917)

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2021

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961868-5

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014089-5

       www.reclam.de

      [9]1. Vorbemerkungen

      Ethische Grundbegriffe benötigen wir, um Grundfragen der Moral zu klären. Mit ihrer Hilfe lässt sich ergründen, was die Kriterien gelingenden Lebens und richtigen Handelns sind.

      Moralisches Handeln, lehrte Kant, ist praktische Vernunft, freie Selbstbestimmung. Das Wesentliche »jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist«, schrieb Nietzsche (1886, 91). Wir haben es hier mit weit mehr zu tun als mit zwei inkompatiblen Paradigmen der philosophischen Tradition. Die beiden Aussagen widersprechen einander aufs entschiedenste, weil sie sehr präzise die gegensätzlichen Bestimmungen benennen, die in der Sache selbst liegen. Keine freie Selbstbestimmung ohne Selbstbeherrschung; kein Zwang ohne den Widerstand, den er hervorruft und aus dem sich Freiheit herausbilden kann.

      »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« (Kant 1803, 711.) Diese Frage liegt Kants Vorlesungen zur Pädagogik zugrunde. Das Paradoxon der Erziehung zur Selbstbestimmung ist auch für die Ethik relevant. Wie können Individuen auf der Grundlage allgemeingültiger, verbindlicher Prinzipien handeln, die unabhängig von Ort und Zeit gewährleisten, dass alle in Freiheit und Selbstbestimmung leben können? Kants moralphilosophische Überlegungen haben eine normativ richtig (d. h. gerecht) eingerichtete Gesellschaft zum Ziel. Diese ist die Voraussetzung seines aufklärerischen Prinzips einer rational begründeten Würde des autonomen Menschen. Wenn die Menschheit in jedem Einzelnen nicht nur mental, sondern auch real »Zweck an sich selbst« wäre, müssten die besonderen Einzelinteressen und das allgemeine Interesse nicht mehr auseinanderfallen.

      [10]»Der Freiheit Gesetze geben« (Kant 1803, 728) – das ist seit der Neuzeit das Thema der Moralphilosophie. Doch gerade wo Zwang und Gewalt durch vernünftige Interaktion überwunden werden sollten, nämlich in der Moral, wirkten sie fort, lautet Nietzsches Diagnose. Der Rahmen für humane, friedliche Interaktion und Interessenausgleich, für Achtung und Anerkennung der anderen, werde durch Gewaltverhältnisse abgesteckt. Gewalt werde durch moralische Gebote und Konventionen internalisiert; das Überwundene kehre wieder, wenn sich Moral gegen die eigene, innere Natur erweist. »›Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst‹ – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein« (Nietzsche 1886, 92). Für Nietzsche stand eine »Umwertung aller Werte« an, wenn sich die Gattung zu einer Lebensform freier, unabhängiger Menschen weiterentwickeln solle. Wie dies sozial, politisch oder ökonomisch zu verwirklichen wäre, darüber finden sich bei ihm allerdings nur Mutmaßungen, teilweise sehr abwegige. Dass die von Kant philosophisch begründete Autonomie des Subjekts, die für Nietzsche Fiktion war, gesellschaftliche Realität werden könnte, wenn eine solidarische Menschheit selbstbestimmtes Subjekt ihrer Praxis würde – das war ein Gedanke, den Nietzsche nicht zuließ (ebenso wenig wie der Neonietzscheanismus der Postmoderne, aber auch dessen systemtheoretischer Kontrapunkt).

      Moralphilosophie behandelt nicht bloß Fragen und Problemstellungen des einzelnen Subjekts und seiner Handlungsentscheidungen. Sie entfaltet sich mit dem kritischen Nachdenken über das Allgemeine, zu dem es sich in Beziehung zu setzen hat: zu Gesellschaft, Politik und [11]Geschichte. Im Folgenden wird es um gegensätzliche Bestimmungen in der Sache selbst, nämlich in der Philosophie der Moral, gehen. Untersucht werden die normativ-kritische Kraft des Diskurses der abendländischen Moralphilosophie und seine Widersprüche. Dies geschieht in einer dialektischen Bewegung des Gedankens: indem versucht wird, innere Ambivalenzen und Antagonismen in den Objekten des Denkens begrifflich zum Ausdruck zu bringen. Die Gegensätze in der Sache sind durch Begriffe, Urteile und Schlüsse angemessen nachzuzeichnen, nicht – durch Aufhebung der Widersprüche in der Identität eines sich selbst reflektierenden Geistes oder einer logisch konsistenten formalisierten Sprache – zu harmonisieren. In exemplarischen und systematischen Erörterungen sowie in punktuellen philosophiegeschichtlichen Exkursen wird es um Gegenwart und Tradition einiger grundlegender Begriffe gehen, die den Diskurs der Ethik von der Antike bis heute prägen.*

      In diesen Grundbegriffen reflektiert sich der Gegensatz, vielleicht sogar der Antagonismus zwischen individuellem Freiheits- und Glücksanspruch und gesellschaftlichem Zwang, zwischen Autonomie und Fremdbestimmung, zwischen der befreienden Kraft und der sozialen Stabilisierungsfunktion der Moral.

      [12]Diese Ambivalenz findet ihren besonders intensiven Ausdruck in einem Konzept, das in diesem Buch zwar nicht eigens erörtert wird, aber hier vorab Erwähnung finden soll: dem Konzept der Empörung. Es bezeichnet die Empfindung, die Menschen angesichts moralisch nicht hinnehmbarer Handlungen und Zustände verspüren. Im Kontext gesellschaftlich-politischen Handelns steht es für Aufstand, Erhebung und Widerstand gegen Herrschaft und Unterdrückung. Zusammen mit dem Konzept der Solidarität (das als soziopolitisches zu verstehen ist, nicht als moralisches) bildet es den gesellschaftlichen Bezugsrahmen einer kritischen Theorie der Moral.

      [13]2. Seiendes und Geltendes

      2.1 Normen und Werte

      In der Ethik wird über die Prinzipien der Moral, ihre Begründung und ihre Anwendung nachgedacht. Anders gesagt: Ethik ist derjenige Teil der Philosophie, in dem es um Werte und Normen geht, also um moralische und sittliche Kriterien, nach denen Handeln beurteilt wird. Unter Werten versteht man höchste Güter wie Glück oder Freiheit, während Normen Regeln sind, die unbedingte Geltung beanspruchen, wenn es etwa um Gerechtigkeit oder Wahrhaftigkeit geht.

      Moralische Werte bilden sozusagen Hintergrundannahmen darüber, was einerseits zu einem gelingenden Leben der Individuen gehört und was andererseits eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft ausmacht. Hier geht es, mit Kant gesprochen, nicht um den »relativen Wert« von etwas, also nicht um seinen »Preis«, sondern um »einen innern Wert« von etwas (Kant 1786, 71). Moralische Normen sind »handlungsleitende Anweisungen, die dazu dienen, Werte zu realisieren oder gegenüber anderen Zielsetzungen zu schützen« (Schmid Noerr 2012, 36). Werte sind dann sozusagen Angebote, während Normen Gebote bzw. Verbote sind. Mit anderen Worten: Werte sind attraktiv, Normen entweder präskriptiv (vorschreibend) oder restriktiv (eingrenzend).

      Sieht man sich beispielsweise den moralischen Wert der Selbstbestimmung näher an, der im Bildungs- und Gesundheitswesen, in der sozialen Arbeit und in der Altenpflege häufig im Fokus steht, zeigt sich Folgendes: Für Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, gilt die Norm, so [14]zu handeln, dass Willensäußerungen von Schüler*innen, Klient*innen und Patient*innen möglichst weitgehend beachtet und befolgt werden, damit der Wert der Selbstbestimmung der Akteure realisiert werden kann, etwa in Bezug auf die persönlichen Freiheiten der Bewohner*innen eines Seniorenheims oder einer therapeutischen Wohngemeinschaft für Heranwachsende sowie in Bezug auf den Datenschutz ebenso wie pädagogische Förderungsmaßnahmen.

      2.1.1 Wertlehre

      Der Begriff des Werts stammt allerdings nicht aus der Ethik bzw. der Philosophie der Moral, sondern aus der Ökonomie – also aus jener Sphäre, von der Kant sein soeben angeführtes Konzept des ›innern Werts‹ abgegrenzt hat.

      Für Kant ist der innere Wert eine Kategorie der »Moralität« (Kant 1786, 70). Diese ist nichts per se Gegebenes; sie entsteht vielmehr dann, wenn Menschen ihr Handeln an einer moralischen »Gesetzgebung«


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