Seewölfe - Piraten der Weltmeere 576. Sean Beaufort
„Das Schiff der Arwenacks. Wir sind auf dem Weg nach England und wollen mit euren Kaufleuten reden.“
Die Mannschaft schaute schweigend und verwundert auf die Venezianer. Die Ruderer hatten die Riemen in einer gleichzeitigen Bewegung senkrecht gestellt und warteten. Alle Männer trugen dicke, farbige Kleidung. Ihre Stiefel glänzten. Das Boot, die Waffen und die Riemen waren in einem hervorragenden Zustand. Selbst die Helme der Bootsbesatzung glänzten und zeigten goldene und silberne Verzierungen.
„Wie heißen Sie, Capitano?“
„Philip Hasard Killigrew. Ich bitte um Gastrecht in eurer Stadt.“
Erst jetzt sah er, daß alle Ruderer und ihr Vorgesetzter schwer bewaffnet waren. Obwohl Venedig seine Besitzungen Nauplia und Monemvasia längst verloren hatte, schien die Lagunenstadt ein Zentrum der Ordnung, des Reichtums und der Macht geblieben zu sein.
Unwillkürlich spürten die Mannen, daß sie sich hier in die Zwänge einer städtischen Ordnung begaben. Venedigs Stadtwachen sahen aus, als würden sie nicht gerne fragen, sondern lieber gleich handeln.
Ben Brighton, der die Stimmung ebenso fühlte, grinste in sich hinein.
„Ihr kennt den Canale di San Marco?“ tönte es aus dem Boot.
„Noch nicht. Welcher ist es?“
Der Vertreter der Republik beschrieb ihnen, wie sie die südliche Seite des Platzes des Heiligen Marcus finden konnten. Er schloß: „Die letzten Schläge müßt ihr rudern. Es liegen andere Schiffe dort, es ist nicht zu verfehlen.“
Hasard bedankte sich.
„Denkt daran, daß sich jedes Schiff unter dem Stadtrecht befindet. Wir wollen Frieden und Ruhe in der Stadt!“ rief der Venezianer.
Der „Capitano“ rief zurück: „Ich lasse jeden kielholen, der sich schlecht benimmt! Meine Männer und ich wehren uns nur, wenn man uns angreift!“
Was häufig passiert ist, dachte er und gab Befehl, zwei Segel zu streichen und die Riemen und Leinen, bereitzuhalten. Die Schebecke drehte langsam wieder aus dem Wind.
Hasard grüßte zu den Venezianern hinunter, die ihre Riemen ausbrachten, das Boot in einem oft geübten Manöver wendeten und ihrem Stützpunkt entgegenpullten.
„Also, Männer!“ sagte der Seewolf grimmig. „Ihr habt’s gehört. Wir werden den Italienern zeigen, wie sich englische Gentlemen benehmen, klar? Als erstes zeigen wir ihnen, wie ein erstklassiges Anlegemanöver gefahren wird!“
Begeistert stimmten die Männer zu. Das Heck des Schiffes schwang herum. Über der Lagune erreichte die riesige dunkelgraue Wolke die rote Sonne. Plötzlich verdunkelte sich die gesamte Umgebung.
Der Wind, der die Schebecke auf den Eingang des breiten Kanals zutrieb, brachte feinen Sprühregen mit. Die Inseln in der Lagune verschwanden hinter einem grauen Regenvorhang. Hasards Söhne, ebenfalls dick vermummt, kletterten zu ihrem Vater zum Achterdeck hinauf.
Blitze und Donner, einzelne wilde Regenschauer und kurze Augenblicke der Windstille begleiteten die Fahrt des Schiffes. Die Fronten der Palazzi troffen vor Nässe. Nur wenige Ruderboote – Gondeln mit hochgezogenen Schnäbeln – kreuzten den Kurs. Das Wasser roch brackig. Die Männer bewunderten den Reichtum und die Schönheit der Häuser, deren Fundamente hoch vom Wasser umspült wurden.
Die Pfähle an den Anlegestellen zeigten spiralige Verzierungen. Nur wenige Leute waren unterwegs und flüchteten vor dem hämmernden Regen unter die Vordächer und Arkaden.
Das Wappen der Stadt, das an vielen Gebäuden glänzte, ließ erkennen, wie mächtig der Stadtstaat einmal gewesen war.
Mit dem Spektiv suchte der Seewolf die Gebäudefronten, den Rand der Kanalteile, die prunkvollen Fassaden und die Hafeneinfahrt ab. Es gab nicht einen Hinweis darauf, daß er seine erste Meinung ändern müsse.
„Klar zum Wenden!“
Der riesige Markusplatz tauchte auf. Auf seinem Pflaster gab es nichts als eine Ansammlung von riesigen Pfützen, in die schwere Regentropfen einschlugen. Das Schiff drehte sich in die Anlegestelle hinein, die Rahrute fiel, das Segel wurde geborgen.
Über Heck, dem Beispiel der anderen Schiffe folgend, legten die Seewölfe längsseits zur kurzen Mole an. Leinen flogen an Land, Luke Morgan und Bob Grey sprangen hinterher und belegten den schlanken Rumpf.
„Klarschiff!“
Hasard wandte sich an Ben Brighton und meinte zufrieden: „Der Regen wird bald nachlassen. Was wir dem Hafenmeister sagen, ist inzwischen allgemein bekannt. Überdies stimmt’s einigermaßen mit der Wahrheit überein.“
Der Erste Offizier spähte zum Himmel. Die Regenwolke zerfaserte. Immer wieder erschien die Sonne in den großen blauen Löchern. Über der Lagune spannte sich ein Regenbogen. Es war lausig kalt geworden.
„Was hast du eigentlich wirklich vor, ich meine, ein reines Handelsschiff sind wir ja nicht gerade.“
„Hör gut zu, was ich dem Hafenmeister erzähle. Unabhängig davon wird man uns schier mit Ehren überhäufen.“
„Wegen Rocca und seinen Plünderern?“
„Genau deswegen. Schließlich liegen hier fünf Frachtsegler. Jeder ist froh, wenn den Wegelagerern des Meeres und anderen Schiffeversenkern das verdammte Handwerk gelegt wird.“
Er schob das Spektiv zusammen und deutete über das nasse Hafenpflaster. „Sie kommen schon. Hier herrschen wirklich Zucht und Ordnung.“
„Wahrscheinlich wollen sie Liegegeld von uns.“
„Sollen sie haben, von mir aus.“
Die Mannschaft nutzte das Regenwasser aus, um den salzigen Belag vom Deck zu waschen. Roger Brighton, der Takelmeister, überprüfte das Rigg und schaffte die Reparaturausrüstung an Deck. Fünf Männer gingen aus der Richtung der Doppelsäulen auf die Schebecke zu. Breite Planken wurden vom Schiff zum Land geschoben.
„Gehen wir, Ben!“ forderte Hasard seinen Ersten auf. „Wir sollten aber tatsächlich mit den Kaufleuten reden. Irgend etwas springt sicher für uns dabei heraus.“
„Einverstanden.“
Über die federnde Planke balancierten sie auf die nassen Quader hinunter. Der Wind brachte einen stechenden Geruch mit sich, der sich wie Giftnebel über den Hafen legte. Vier Bewaffnete mit Hellebarden, zweiläufige Pistolen in den breiten Gürteln, begleiteten den Hafenmeister. Er schlug seinen prächtigen, nassen Mantel zurück und stellte sich mit einer kurzen Verbeugung vor.
„Mario de Biasi, meine Herren, diensttuender Hafenmeister der Stadt. Ihr habt am besten Platz angelegt, wie ich sehe.“
Auch Ben Brighton und Hasard verbeugten sich und nannten ihre Namen.
„Wie lange wollt ihr bleiben?“
„Vielleicht zehn Tage, etwas mehr oder etwas weniger“, erwiderte Hasard. „Wir haben das Schiff auszubessern, denn es hat während der mißlichen Streitigkeiten mit einem der Feinde Venedigs gelitten.“
Der Italiener deutete mit einem ringgeschmückten Zeigefinger auf seinen Schreiber, der sorgfältig jedes Wort auf einer Tafel notierte.
De Biasi war erstaunt und zeigte es deutlich.
„Unsere Feinde? Wie das?“
„Erzähle es ihm!“ forderte Hasard seinen Ersten auf.
Ben Brighton schilderte ihr Abenteuer mit den erfindungsreichen Schiffeversenkern.
Während der stechende Gestank stärker wurde, hörte der Regen endgültig auf. Die strahlende Nachmittagssonne verwandelte die Umgebung des Markusplatzes wieder in eine farbenfrohe Kulisse. Als hätten sie alle nur darauf gewartet, daß der Regen aufhörte, strömten Menschen aus allen Winkeln und Ecken auf den Platz, die gepflasterten Wege und die Gäßchen zwischen den mehrstöckigen Häusern.
„Der Rat der Stadt, Capitano Killigrew, wird