Seewölfe - Piraten der Weltmeere 69. Roy Palmer
Impressum
© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-386-2
Internet: www.vpm.de und E-Mail: [email protected]
Inhalt
1.
Neblig-grau erhob sich der neue Tag über dem östlichen Horizont. Nur träge kroch das schale Licht nach Westen, etwa so, als könne es sich nicht entschließen, auch die Küste von Syrien allmählich zu überfluten. Das Drama, das hier seinen Lauf nahm, verlangte nach den Schatten der Nacht. Bislang hatten sie alles zugedeckt und waren zum Verbündeten der beiden feindlichen Parteien geworden. Jetzt verflogen sie und gaben weiße Wölkchen frei, die vom Ufer des Levantinischen Meeres hochstoben.
Das war kein Morgennebel. Es war Pulverdampf.
Das Krachen der Musketen und Arkebusen der Männer des Scheichs Manach el Bedi zerriß die morgendliche Stille. Sie knieten auf dem sanft ins Meer abfallenden weißen Sandstrand, hatten ihre Waffen auf Gabelstützen gelegt und sandten dem Seewolf und seiner Crew voll Haß und Erbitterung Kugeln und gehacktes Blei nach.
„Ihr gottverdammten Mufties und Hosenscheißer!“
Edwin Carberry stand am Steuerbordschanzkleid auf der Kuhl der „Isabella VIII.“ und schüttelte erbost die Faust gegen die Feinde. Er machte seiner Wut Luft und ließ den üblichen Schwall von Verwünschungen vom Stapel. Nur – es klang anders als der Sermon, den die Crew regelmäßig über sich ergehen lassen mußte. Carberry meinte es ernst, todernst.
Während er und die anderen Männer auf Kuhl und Quarterdeck sich bereits wieder aufrichten konnten, hielten sich Hasard und seine Leute auf dem Achterdeck weiter hinters Schanzkleid geduckt. Das Heck der Dreimast-Galeone befand sich noch nicht außer Schußweite des Gegners.
„Ihr Satansbraten, Höllenhunde, Mistfresser, Stinkstiefel, Drecksäcke und Kanalratten!“ brüllte der Profos zum Ufer. „Oh, ihr Affenärsche, ihr verlausten und verwanzten, der Teufel soll euch holen, euch und euren Hurenbock von einem Scheich!“
In seine letzten Worte hinein dröhnte der Schußlärm der Drehbasse auf dem Achterdeck. Hasard hatte sie nach sorgfältigem Zielen gezündet. In einer feurigen Lohe stob die Ladung aus dem Rohr der Basse. Sie ruckte in ihrer Gabellafette. Das Ding drohte fast aus seiner Halterung im Schanzkleid zu brechen. Hasard hatte die Pulverladung üppig bemessen, aber für Manach el Bedi und seine Kerle konnte sie nicht kräftig genug ausfallen.
Vom Strand stieg plötzlich eine Sandfontäne auf, zwei, drei Meter hoch. Mittendrin wirbelten menschliche Gestalten. Ein einziger Aufschrei brandete durch die Reihen der Verfolger. Hasard hatte die Meute genau in ihrem Zentrum getroffen.
„Volltreffer!“ brüllte Ferris Tukker.
Big Old Shane, Ben Brighton, Pete Ballie und die anderen auf dem Achterdeck grölten ebenfalls vor Begeisterung. Während Ferris seinem Kapitän zu dem meisterhaften Schuß gratulierte, schnellte dieser plötzlich vor und packte Old O’Flynn.
Der alte Donegal hatte in seiner hellen Freude den Kopf zu hoch genommen. Hasard konnte ihn gerade noch auf die Planken zurückdrükken, da pfiff auch schon eine Kugel über sie weg. Weitere Schüsse prasselten achtern gegen die Galerie. Ein Bleiglasfenster ging klirrend zu Bruch. Der Rest der Geschosse hagelte zirpend in die See und siebte das Kielwasser der „Isabella“.
„He!“ rief Hasard. „Willst du außer dem Bein auch noch deinen Schädel einbüßen? Dafür bastelt dir keiner eine Prothese!“
„Wäre doch nicht schade um die Rübe“, erwiderte der Alte in einem Anflug von Bitterkeit. „Verdammt, letztlich ist es mir scheißegal, ob ich lebe oder abkratze.“
„So darfst du nicht reden. Was soll ich denn sagen?“
„Gar nichts. Du bist jung.“ O’Flynn fixierte seinen Schwiegersohn, und ein milderer Zug legte sich auf seine Miene. „Die Zeit heilt Wunden, und für dich geht das Leben weiter.“
„Sprüche“, erwiderte Hasard. Seine Stimme klang belegt, unwirklich. „Ich hätte nicht übel Lust, mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen.“
„Hör auf. Du schaffst es, darüber hinwegzukommen.“
„Wir müssen es schaffen“, sagte Hasard zu dem Alten.
Die zweite Drehbasse wummerte los, Ferris hatte sie gezündet. Auch seine Kugel riß eine Bresche in die Reihe der Gegner am Ufer. Wenn es auch nur zwei oder drei Kerle waren, die in den Tod befördert wurden – was zählte, war die Verwirrung, die entstand. Manach el Bedis Männer liefen aufgescheucht wie die Hühner hin und her.
Das Schießen hatten sie fast ganz aufgegeben. Und wer von ihnen noch feuerte, vergeudete ohnehin seine Munition. Die „Isabella“ hatte inzwischen mehr Fahrt aufgenommen. Die Distanz zwischen ihr und der Küste wuchs schnell. Sie befand sich jetzt für die Musketen und Arkebusen der Gegner außer Reichweite.
Hasard erhob sich.
Er blickte mit dem Spektiv zum Ufer und erkannte einen Trupp Reiter, der sich in einer dichten Staubwolke näherte. Das Sonnenlicht gewann die Oberhand über die dämmrigen Schleier, und so konnte er auch erkennen, um wen es sich bei den beiden Männern an der Spitze des Pulks handelte.
Manach el Bedi und El Hakim!
Manach el Bedi sprang aus dem Sattel, bevor das Pferd richtig stand. Er begann zu toben, als er die Toten und Schwerverletzten liegen sah. Er führte sich wie in einem Wahnsinnsanfall auf, rannte ziellos auf und ab, trat seinen Männern in den Hintern, schlug sie mit den Fäusten, trampelte auf der Stelle, daß der Sand hochspritzte.
Er konnte es nicht verwinden, daß der verhaßte Giaur Killigrew nun doch noch mit heiler Haut entkommen war. Mit dem Schatz des Malteserordens! Und zu allem Überdruß hatte er noch einen Bleigruß entboten, der sich gewaschen hatte!
Hasard beobachtete mit grimmiger Miene. Genugtuung empfand er bei Manach el Bedis Auftritt nicht. In diesem Moment begriff er, daß auch das Töten von Manach el Bedi und El Hakim den Schmerz nicht auslöschen konnte, der in seinem Herzen tobte. Diese Seelenqual ließ sich durch nichts beseitigen.
Ihr Tod konnte ihm das Leben der Zwillinge nicht wiederschenken. Es war sinnlos. Alles war nutzlos geworden, der Kampf für die Krone, das Erbeuten riesiger Schätze, die Abenteuer, die Entbehrungen – alles.
Philip und Hasard waren gerade ein Jahr alt geworden. Dann hatte Stark sie umgebracht. Isaac Henry Burton hatte es dem Seewolf voll Haß und Hohn entgegengespien, bevor auch er das Zeitliche gesegnet hatte. Er, Burton, war von einer giftigen Schlange gebissen worden. Aber statt sich zumindest in der Todesminute zu läutern, hatte er die Zeit nur noch genutzt, um dem Seewolf neue Pein zuzufügen. Das war gewesen, als spucke er sämtliches Schlangengift, das in seinen Adern bis zum Hirn