Seewölfe - Piraten der Weltmeere 443. Davis J. Harbord
verbracht und dort biwakiert. Es war ein feiner Platz: er lag geschützt und bot Wärme. Sie hatten gewissermaßen ein Dach über dem Kopf – ein Silberdach.
Ein bißchen verrückt war das schon, wenn man das so betrachtete und das Spinnen anfing. Carberry zum Beispiel hatte gesagt, so ein teures Dach hätte er noch nie über dem Kopf gehabt, und wenn er das seinen Enkeln erzählte, würden die ihn auslachen oder glattweg erklären, der Opa Edwin sei ein ganz fürchterlicher Aufschneider.
In dieser Nacht nun hatte er davon geträumt, ganz in Silber gebettet zu sein. Gegen Morgen hatte ihn der Traum in ein Bad entführt, dem er versilbert entstiegen war.
Matt Davies konnte das nicht wissen, als er dem Profos den Ellbogen in die Rippen stieß, weil der so entsetzlich schnaufte und röchelte.
Matt Davies wiederum war aufgewacht – als erster übrigens –, weil ihn nicht Carberrys Schnaufen und Röcheln beunruhigt hatten, sondern weil etwas anderes an seine Ohren gedrungen war – Geräusche, die er nicht zu deuten wußte. Sie kamen nicht von draußen, sondern aus dem Berg: ein dumpfes Schlagen oder Pochen, eine Art Scharren, auch ein Knistern und Rumpeln. Unheimlich war das anzuhören. Und darum hatte er den Profos geweckt, der neben ihm lag.
Carberry grunzte, dann fuhr er hoch und stierte Matt Davies aus verdwarsten Augen an.
„Horch mal“, sagte Matt Davies.
„Wie?“ Carberry war noch nicht ganz da. Eben hatte er ja noch in Silber gebadet.
„Hörst du nichts?“ fragte Matt Davies.
Carberry wurde unwirsch. „Was soll ich denn hören?“
„Die Geräusche.“
„Was für Geräusche?“
„Aus dem Berg, Mann! Bist du taub oder was?“ knurrte Matt Davies.
Nun hätte sich normalerweise der Profos bei einer Frage nach der Schärfe seines Gehörs ganz erheblich aufgepumpt und dem Frager alles mögliche angedroht, denn nur Idioten können daran zweifeln, ob ein Profos schwerhörig sei – ein Profos, der dazu verpflichtet ist, die Kakerlaken an Bord husten zu hören.
Nichts da.
Der Profos wendete etwas den massigen Schädel – und lauschte. Und er vernahm das Scharren und Rumpeln, das Schlagen und Pochen, das Knistern und auch ein Knacken. Und er zog diesen massigen Schädel etwas unbehaglich ein, während er ihn wieder zu Matt Davies drehte und sich gleichzeitig rechts am Hals kratzte.
„Klingt nicht gut“, sagte er. „Klingt ganz so, als lebe dieser Berg aus Silber …“
Er hatte noch etwas anfügen wollen, aber da war ein neues Geräusch in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie starrten beide ruckartig dorthin – links von ihrem Schlafplatz. Dort rieselte etwas aus den Ritzen zwischen den Stollenwänden, die mit Brettern verschalt waren, mit sehr grauen und zum Teil schon recht morschen Brettern. Schutt war das, was da in den Stollengang rieselte und unten auf dem Boden ein kleines Hügelchen bildete. Es glitzerte ein bißchen zwischen diesem Schutt.
Dann hörte das Rieseln auf – die Geräusche aus dem Berg blieben. Sie blickten sich beide stumm an – zwei Männer, die den größten Teil ihres Lebens auf See verbracht und dem Teufel samt seiner Großmutter alle Ohren abgesegelt hatten. Den Schwanz auch, wenn der Teufel einen hatte, was man aber nicht so genau wußte.
Aber hier?
„Das ist vielleicht ein Scheißberg“, sagte Carberry. „Stell dir mal vor, der ganze Mistkram bricht zusammen, und wir sitzen da mitten drin – mit tausend Schiffsladungen Silber im Genick. Und was meinst du, wie schwer Silber ist?“
Matt Davies wurde unruhig, wobei ihn die Frage nach dem Gewicht von Silber nicht so sehr bedrückte wie der Gedanke, wann „der ganze Mistkram“ denn zusammenbrechen würde.
„Wir sollten Hasard wecken“, sagte er hastig. „Hier sind wir unseres Lebens nicht mehr sicher.“
Hasard war längst wach und hatte dem ersprießlichen Dialog seiner beiden Kerle interessiert gelauscht. Sieh an, dachte er, in Gefechten sind sie unerschütterlich und auch dann, wenn ihnen das Wasser bis zu den Nasenlöchern steht und die Ratten bereits von Bord verschwunden sind, aber vor dem Berg haben sie einen unheimlichen Respekt. Man mochte fast glauben, mehr Respekt als vor Stürmen, Seebeben, Flutwellen und Riesenkraken.
Ein vierter Mann war auch bereits wach – Pater Aloysius, der scharfgesichtige Kerl aus dem Land Tirol, der sie mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit aus dem Tacna-Tal über Berge und Pässe nach Potosi geführt hatte. Er war ein Mann aus den Bergen – und man konnte Berge auf ihn bauen.
Er grinste durch das Halbdunkel des Stollens zu Carberry und Matt Davies hinüber, nachdem er sich aufgerichtet hatte, und sagte belustigt: „Die Indios haben mit ihrer Arbeit angefangen – drüben, auf der anderen Seite des Berges. Und das hört ihr jetzt. Hier bricht nichts ein – eher drüben. Außerdem sind wir hier nicht tief im Berg, sondern mehr oder weniger an seinem Rand. Wenn was zusammenkracht, sind wir Manns genug, uns nach draußen zu schaufeln.“
„Aha“, sagte Carberry. „Und was da zwischen den Brettern rausrieselt, ist harmlos, wie?“
„Irgendwann nicht mehr“, erwiderte Pater Aloysius gelassen, „aber da sind wir nicht mehr hier. Jeder Berg arbeitet oder anders ausgedrückt, er verändert sich, weil vieles auf ihn einwirkt, zum Beispiel von außen Schnee, Regen, Wind, Hitze und Kälte. Kein Stein, und mag er noch so hart sein, hält das auf die Dauer aus. Sogar die Wurzeln von Pflanzen können einen Stein sprengen – nicht von heute auf morgen, aber im Laufe von Jahren. Wenn sich an der Oberfläche etwas verändert, muß zwangsläufig auch im Inneren des Steins eine Wandlung stattfinden. In diesem Berg kommt hinzu, daß ihn die Menschen anbohren und Stollen hineintreiben. Sie durchlöchern ihn. Da fragt sich, wie lange er das hinnimmt, dieser Berg. Und wenn er sich wehrt, dann werden es die geschundenen Indios sein, die von ihm erschlagen werden.“ Die Stimme von Pater Aloysius wurde grimmig: „Und hoffentlich erschlägt der Berg dann auch ein paar Aufseher.“
Das also war Pater Aloysius, und er nahm nie ein Blatt vor den Mund, dieser streitbare Gottesmann aus einem Land, wo auch die Berge in den Himmel ragten, Mahnmale für die Winzigkeit der Menschen, die sich dennoch anmaßten, sie erobern und ausbeuten zu können.
So begann also dieser 28. Dezember, ein klarer, kalter Tag in diesen Höhen, in denen die Luft so dünn war, daß man mit dem Atmen Mühe hatte. Aber sie hatten bei ihrem Aufstieg in diese Regionen Pausen eingelegt, verordnet von Pater Aloysius. Und so hatten sie sich allmählich an die dünnere Luft gewöhnt. Ihre Gesichter waren tiefbraun und bärtig geworden.
Hasards Augen hatten jetzt die Farbe von bläulichem Gletschereis.
Er nickte nur, als Stenmark den Stollen betrat und meldete, im südlichen Bereich des Cerro Rico sei „kein Schwanz“ zu sehen. Er meinte das wörtlich, denn auf diese Seite des Berges verirrte sich nicht einmal ein Hund. Was sollte er hier! Die Abfälle in der Stadt waren so reichlich, daß er sich eine Wampe anfressen konnte. Den Hunden in der Stadt ging es besser als den Indios im Berg.
Stenmark war die Morgenwache gegangen. Seine Meldung bestätigte, was Pater Aloysius bereits am Vortag gesagt hatte, als sie in den verlassenen Stollen eingedrungen waren. So merkwürdig das klingen mochte: hier auf der Südseite des Silberberges waren sie absolut sicher.
Hier hatte man zwar anfangs vor vierzig oder fünfzig Jahren Stollen in den Berg getrieben und oberflächlich Silber abgebaut, aber dann war man auf die Nordseite umgewechselt, wo sich die Stadt ausgebreitet hatte. Von dort war es bequemer, das abgebaute Silber in die Stadt zur Münze zu bringen.
Eine erste Erkundung des Stollens hatte ergeben, daß noch ein paar Nebenstollen angelegt worden waren, ziemlich verzweigt, so daß die Männer tatsächlich ein ideales Standquartier gefunden hatten. Denn diese Nebenstollen waren ideale Verstecke. Wer hier eindrang, konnte blitzschnell und lautlos überrumpelt werden. Im übrigen hatten sie in einem dieser Nebenstollen ihre Maultiere untergebracht, jetzt fünfzehn an der Zahl, von denen sieben in ihre Hände gefallen waren, als sie in