Das Mädchen im Moor. Heinrich Thies

Das Mädchen im Moor - Heinrich Thies


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      Von wem er das wohl hat?, ging es ihm durch den Kopf. Von wem wohl? Von mir bestimmt nicht, ich bin nie ein großer Fußballspieler gewesen.

      Aber es war keine Frage: Der große, breitschultrige Junge war sein Sohn. Anfangs hatte er noch gezweifelt. Aber als er dann noch mal die Fotos betrachtet und später mit dem Original verglichen hatte, stand es fest. Es war Sören. Sein Fleisch und Blut, wie man so sagte.

      Er spürte, dass der Junge seinen Blick erwiderte, fühlte sich ertappt, blickte in eine andere Richtung. Aber im nächsten Moment fragte er sich, was das für einen Sinn machte. Und er sah zurück, sah seinem Sohn in die Augen. Er war wie elektrisiert. Sören war anzusehen, dass es ihn verunsicherte, so angestarrt zu werden. Doch sein Gesichtsausdruck hatte nichts Abweisendes. Er war offen. Das gefiel Mahnke. Seine Erstarrung löste sich, wandelte sich in ein Lächeln.

      Ihm war, als würde die Zeit stillstehen. Die Sekunden dehnten sich. Dann aber wurde Sören von einem Mitspieler ins Spiel zurückgeholt, und der Platzwart nahm seine Harke und harkte weiter das trockene Gras zusammen. Das war schließlich sein Job.

      Mahnke fasste sich an die Stirn. Ein Schwindelgefühl. Die Eindrücke waren so stark, dass sie ihn fast umwarfen. Vier Wochen zuvor erst war er aus dem Gefängnis entlassen worden, aus der Justizvollzugsanstalt Celle, dem Knast für Schwerverbrecher. Sicher, er hatte schon seit einem Jahr Ausgang gehabt, war in den letzten Monaten im offenen Vollzug gewesen. Aber nun auf einmal wieder allein auf eigenen Füßen zu stehen, das war doch etwas anderes, etwas ganz anderes.

      Zum Glück stand ihm seine Schwester zur Seite. Sabine hatte für ihn eine kleine Wohnung in Hannover gemietet und auch den Kontakt zu dem Sportverein in Langenhagen hergestellt. Vor allem hatte sie für ihn herausgefunden, dass Sören in diesem Verein Fußball spielte – sein Sohn Sören, den er bisher nur von Fotos kannte. Welch Glück, dass die Sportfreunde Silbersee gerade jetzt auf der Suche nach einem Platzwart gewesen waren. Vor allem: Dass sie ihn genommen hatten, den entlassenen Sträfling, den verurteilten Mörder. Das war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.

      Plötzlich fliegt ein Ball an ihm vorbei. Mahnke reagiert sofort, lässt seine Harke fallen, läuft dem Ball hinterher und schießt ihn zurück aufs Spielfeld, nicht etwa mit der Fußspitze, sondern, wie er es einmal gelernt hat, mit dem Innenrist – und er schießt den Ball nicht irgendwohin, sondern direkt auf Sören zu. Der stoppt das Leder, hebt in Mahnkes Richtung die Hand und ruft »Danke«.

      Mahnke ist überwältigt – und noch entschlossener als zuvor, die Gelegenheit zu nutzen. Nach dem Training will er Sören ansprechen. Nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, nein, das wäre zu viel, aber auf jeden Fall einen ersten Kontaktversuch wagen.

      Er muss nicht lange warten.

      »Schluss für heute, Leute«, ruft der Trainer nach wenigen Minuten, und Mahnke schlendert so unauffällig wie möglich in Richtung des Sportlerheims, wo die jungen Spieler gleich die Umkleidekabinen ansteuern und seinen Weg kreuzen werden.

      Er spürt, wie sein Pulsschlag heftiger wird, wie ihm das Blut bis in die Fingerspitzen schießt, die Hände feucht werden, doch er müht sich, die Aufregung niederzukämpfen, es möglichst beiläufig wirken zu lassen, als Sören näher kommt und er die Chance erhält, ihn anzusprechen.

      »Sah nicht schlecht aus, Kompliment. Wenn du im Spiel genauso gut bist wie beim Training, können eure Gegner einpacken …«

      Die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus.

      Der Angesprochene ist verunsichert. »Danke.«

      Mahnke lächelt. »Wirklich, ich glaub, du hast Talent, Sören, du spielst großartig.«

      Sören ist anzusehen, dass ihn die Ansprache irritiert. Woher kennt der Typ seinen Namen? Doch dann fällt ihm ein, dass seine Mitspieler ihn ja ständig beim Training mit seinem Namen anrufen, und seine Verwunderung legt sich. Aber schon während er unter der Dusche steht, fragt er sich, warum dieser Mann ein solches Interesse an ihm zeigt.

       Sonntag, 9. September 2007, Langenhagen

      Kevin ging mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Ein Abwehrspieler des SV Linden hatte ihn mit voller Wucht in die Beine getreten. »Brutale Sau«, riefen sie am Seitenrand, »Rote Karte«. Doch der Schiedsrichter ließ weiterspielen.

      Es ging auf die Halbzeit zu. Die Anfeuerungsrufe wurden lauter, die Fouls härter. Gerade hatte der SV Linden einen Ausgleichstreffer erzielt, es stand 2:2. Das hätte nicht passieren dürfen. So viele Gegentore! Auf eigenem Platz! Bei einem Gegner, der schon seit Jahren als Punktelieferant galt.

      Sören beobachtete im Rückwärtsschritt, wie sich ein Mitspieler mit dem Ball aus einem Knäuel herauskämpfte, stürmte zur Seitenlinie, verfolgte den geglückten Pass, rief Simon an, um das Leder zu übernehmen – und fing die Flanke auch schon im nächsten Moment ab. Ohne zu zögern, trieb er den Ball weiter in Richtung Tor, umspielte einen Abwehrspieler, hielt Ausschau nach einer Abspielmöglichkeit und dribbelte, da er niemanden fand, weiter, um eine Schussposition zu finden. Schließlich entdeckte er eine Lücke und hielt aufs Tor zu. Ein Abwehrspieler jedoch hechtete in die Schusslinie und beförderte den Ball hinter die Torlinie. Immerhin Eckstoß.

      »Bravo«, rief da jemand. »Bravo, Sören.« Es war der Platzwart, der jetzt beim Punktspiel eine schwarze Baseballkappe trug, um sein blasses Gesicht vor der Sonne zu schützen.

      Sören fiel auf, dass sich der Mann weit entfernt vom Anhang der Langenhagener aufhielt, näher bei den Vätern und Müttern der Lindener. Im Pulk der Langenhagener entdeckte Sören auch seine Mutter. Wie üblich war sie mit Tobias gekommen. Sie lehnte an der Absperrung. Aber anders als sonst zeigte sie kein Interesse am Spielgeschehen. Zorn, Entsetzen spiegelte sich im Blick der braunhaarigen, dezent geschminkten Frau, die in ihrem weißen Hosenanzug ausgesprochen elegant wirkte. Was hatte sie nur? Immer wieder richteten sich die Augen von Sibylle Häcking für den Bruchteil einer Sekunde auf den Mann an der gegenüberliegenden Seite des Spielfelds, und wer dicht neben ihr stand, hätte bemerken können, dass sie die Lippen aufeinanderpresste und vor Entrüstung bebte.

      Was ging da vor? Sören spürte, dass etwas nicht stimmte, zwang sich aber, seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zuzuwenden. Denn gerade in diesem Augenblick führte ein Mitspieler den Eckstoß aus, und Kevin gelang es, den Ball mit dem Kopf ins Tor zu lenken. 3:2. Der Jubel war groß.

      Mathias Mahnke hatte sie sofort entdeckt. Sie war kaum gealtert. Eine attraktive Erscheinung, ohne Frage. Der Junge, der neben ihr stand und sie drängte, ihr Portemonnaie zu öffnen, war vermutlich Tobias, ihr Sohn, Sörens fünf Jahre jüngerer Halbbruder, der Tobi genannt wurde, wie Mahnke von seiner Schwester wusste.

      »Klasse, Sören.« Er konnte nicht anders, als seine Begeisterung herauszuschreien. Als er jedoch auf die andere Seite blickte, um zu sehen, wie Sibylle Häcking auf ihren talentierten Sohn reagierte, sah er in die Augen einer Fassungslosen. Wie ein Bannstrahl traf ihn dieser Blick. Doch er hielt stand, spürte, dass es kein Zurück mehr gab, wandte sich wieder dem Fußballspiel zu und nahm sich vor, gleich in der Pause den Schritt zu tun, der unvermeidlich war.

      Behutsam nähert er sich dem Anhang der Langenhagener, lässt sich von Männern grüßen, die ihn bereits beim Rasenmähen gesehen und als neuen Platzwart identifiziert haben, hält auf Sibylle Häcking zu, die mit mehreren Frauen an der Getränkebude steht, einen Becher mit Mineralwasser in der Hand, schweigend und außerordentlich nervös, wie ihm auffällt. Schließlich löst sie sich von den anderen Müttern, um zur Toilette zu gehen. Kurz vor den Toiletten fängt Mahnke sie ab.

      »Hallo, Sibylle.«

      Die Angesprochene zuckt zusammen. Ihr Gesichtsausdruck wirkt gehetzt. »Was willst du hier?« Eine einzige Zurückweisung drückt sich in der Frage aus. Eine verbale Ohrfeige.

      »Ich wollte nur …«

      »Verschwinde«, zischt sie ihm zu, das Gesicht ist wutverzerrt, die Unterlippe bebt vor Zorn. »Verschwinde aus meinem Leben.«

      »Sibylle, bitte, ich …«

      »Lass


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