Stoner McTavish. Sarah Dreher
das unten dranhängt … Nein?«
»Marylou, ich werde nicht mit einer Kanone durch Wyoming spazieren.«
»Warum denn nicht, das tun doch alle dort!«
Stoner stöhnte. »Nur im Film.«
»Also gut, was soll’s? Wahrscheinlich hat Mrs. Burton sich sowieso alles bloß eingebildet.«
»Hoffentlich.«
»Schreibst du mir?«
»Jeden Tag.«
Marylou nahm sie in den Arm. »Hey, die Veränderung wird dir guttun. Und denk nur an all die Schönheit …«
»Ich weiß«, sagte Stoner. »Ich wollte schon immer gern die Tetons sehen.«
»Eigentlich meinte ich nicht die Berge«, sagte Marylou.
Kapitel 3
Ihr erster Blick auf den Mittelwesten aus zehntausend Meter Höhe überzeugte Stoner von den Vorzügen einer Flugreise. Weit unten erstreckten sich Meile um Meile gleichmäßige, gelbbraune Vierecke, deren Symmetrie durch schnurgerade Straßen verstärkt wurde. Gelegentlich tauchte ein vereinzeltes Farmhaus auf, von Bäumen umgeben, geduckt und einsam, wie ein verlorengegangener Zugvogel, vom Sturm über das weite Meer getrieben. Ein Traktor kroch wie ein Käfer über ein Feld. Er würde mindestens zwei Tage brauchen, um es zu überqueren.
Andererseits würde sie ein Auto mit etwas ausstatten, was sie, seit das Flugzeug Boston verlassen hatte, schon mehrmals vermisst hatte – mit der Möglichkeit umzukehren. Nur eiserne Disziplin, Selbstverleugnung und ein doppelter Manhattan hatten sie davor bewahrt, sich bereits in Chicago mit dem nächsten Flug Richtung Osten aus dem Staub zu machen. Stoner lehnte den Kopf an die Rückenlehne und starrte auf das Ende der Tragfläche. Der Himmel wurde ein wenig dunkler, verblich gegen den westlichen Horizont. Eine kleine Wolke schwebte am Fenster vorbei.
Die Städte östlich des Mississippi schmiegten sich an die Erdkrümmung. Sie spürte auf einmal Neugier und Erregung. Das waren die großen Prärien dort unten, die Heimat der inzwischen verschwundenen Büffelherden, der Güterzüge, der Arapahoe-Indianer, des Pony Express, der Siedlertrecks und der Sandstürme. Die Pioniere zogen los, um sie zu durchqueren, ohne zu wissen, was auf der anderen Seite lag – oder ob es überhaupt eine andere Seite gab. Männer wurden in die Gewalttätigkeit getrieben und Frauen in den Wahnsinn, von der Einsamkeit, der Ungewissheit und dem Wind. Dieses Leben war unvorstellbar, bis heute. Es müssen Dutzende von Meilen zwischen den Farmhäusern liegen. Die Farmerinnen verbringen Tage, wenn nicht Wochen, ohne das Gesicht einer anderen Frau zu sehen. Sie putzen, kochen, bauen Gemüse an und sehen fern. Tag für Tag, ein ganzes Leben lang. Was kannst du tun, wenn du einsam bist? Was kannst du tun, wenn dich dein Ehemann misshandelt? Was, um alles in der Welt, kannst du tun, wenn du lesbisch bist? Klar, du würdest wahrscheinlich in allen Fällen das Gleiche tun – abhauen, wenn es geht. Und wenn es nicht geht, die Zähne zusammenbeißen, versuchen, nichts zu fühlen, und wie verrückt darauf hoffen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt – oder nach Nebraska, was auch immer zuerst kommt.
Die Stewardess beugte sich über sie und unterbrach ihre Träumerei. »Wir landen in zehn Minuten, Miss Mc Tavish.«
»Ms.«, sagte Stoner automatisch.
In der Ferne konnte sie die vorderste Reihe der Rockies sehen, eine dünne, malvenfarbene Linie zerklüfteter Felsen. Das Flugzeug ruckte etwas, die Triebwerke verlangsamten. Die Berge kamen näher und wuchsen gleichzeitig in die Höhe. Die scharfen Spitzen zerfransten den lavendelfarbenen Himmel. Die winzigen diamantenen Lichter von Denver blinkten durch den dünnen Nebel. Stoner spürte einen Kloß im Hals, sie war im Westen.
***
Der kleine zweimotorige Frontier-Airlines-Flieger hüpfte und sackte in den Luftströmungen, als gäbe es Schlaglöcher im Himmel. Stoner blickte sich flüchtig nach den anderen Passagieren um und fühlte sich etwas fehl am Platz in ihrer östlichen Kleidung. Waren auf der Route nach Denver hauptsächlich noch Geschäftsanzüge und Freizeitkleider geflogen, so bevorzugten die Einheimischen eindeutig Jeans und karierte Holzfällerhemden. Sie landeten kurz in Laramie zwischen und lieferten ein paar Absolventen fürs Ferienseminar ab, dann starteten sie Richtung Nordwesten. Der Himmel leuchtete noch im Westen, verdunkelte sich aber zusehends. Ein Planet glitzerte am Horizont. Die Nacht zog unaufhaltsam herauf.
Ihr Sitznachbar fuchtelte zum Fenster hinaus. »Medicine Bows«, sagte er. Unter ihnen lagen schneebedeckte Berge. »Gletscher.«
Es war ein Mann mittleren Alters in Polyester-Jeans und spitzen Cowboy-Stiefeln. Eine unauffällig wirkende Person. Es waren die ersten Worte, die er nach über einer Stunde von sich gab.
»Mir fiel auf, dass es keinen Sonnenuntergang gab«, sagte Stoner. »Ist das hier immer so?«
Er nickte. »Einöde.«
»Kommen Sie aus Jackson?«
»Moos. Fisch- und Wildbestand. Wapiti.«
»Moos, Fisch- und Wildbestand und Wapiti?«
»Forstbeamter«, grunzte er. »Lebe in Moos.«
»Wapiti?«, fragte Stoner vorsichtig tastend.
»Erforsche die Wapiti. Elche. Sind aber keine, sondern Wapiti.«
»Oh«, sagte Stoner. Sie erinnerte sich vage, irgendetwas über das nationale ›Naturschutzgebiet für Elche‹ gelesen zu haben.
»Sehen aus wie Elche«, sagte der Mann. »Sind aber keine.«
»Wapiti«, sagte Stoner.
Er grunzte auf eine zufriedene Art und musterte ihre Kleidung. »Touristin?«
Stoner schüttelte den Kopf. »Ich bin … geschäftlich hier.«
»Gut. Zu viel verdammte Touristen. Regierung?«
»Nein, ich bin von einem …«, sie zögerte, »… Reisebüro. In Boston?«, beendete sie den Satz hoffnungsvoll.
»Verdammte Touristen.«
»Nein«, sagte Stoner eindringlich. »Ich bin keine Touristin.«
»Aber Sie leben von ihnen.«
»Aber ich mag sie nicht.«
»Sie sollten von etwas leben, was Sie mögen.«
»Na ja, einige mag ich. Nur die nicht, die glauben, die ganze Welt sei ihre persönliche Spielwiese.«
»’ne Menge davon, überall«, sagte Fisch- und Wildbestand.
»Es gibt genügend Orte für sie.«
»Zum Beispiel?«, fragte er.
»Las Vegas, der größte Teil Floridas und Atlantic City.« Sie hatte den Eindruck, als ob er ein wenig lächelte, aber es konnte auch eine Halluzination gewesen sein.
»Irgendwer ist immer hinter irgendetwas her in dieser Gegend«, maulte der Mann. »Hinter was sind Sie her?«
»Ich will mich nur ein wenig umsehen«, sagte Stoner. »Dann empfehle ich diesen Ort nicht den falschen Leuten.«
Fisch- und Wildbestand glotzte sie an. »Sie wollen sich die Gegend anschauen, um die Leute von hier fernzuhalten?«
Stoner nickte eifrig.
»Schräger Vogel«, sagte er. »Wollen Sie ’n Schluck?«
Stoner schaute sich zum Heck des Flugzeuges um. Wenn es hier so etwas wie eine Küche gab, dann war sie bestenfalls dazu bestimmt, als drittklassige Postbeförderung zu dienen. »Werden auf diesem Flug Getränke serviert?«
»Nix.« Er zog einen Flachmann aus seiner abgegriffenen Ledertasche, wischte die Öffnung mit seinem Ärmel ab und reichte ihn Stoner.
Mit dem Gefühl, in irgendein heiliges Stammesritual eingeweiht zu werden, schickte Stoner ein kurzes Stoßgebet zu sonst wem, wer auch immer gerade zuhören mochte,