Abpfiff. Dominique Manotti
und fünfzig Jahre, groß und schlank beziehungsweise mittelgroß ohne weitere Details, kantiges beziehungsweise eher fülliges Gesicht. Die einzigen halbwegs verlässlichen Angaben: pechschwarze Haare und Augenbrauen. Und selbst hier: Der Haaransatz ist nicht derselbe. Für Blondeau hatte der Typ einen ausländischen Akzent, aber Genaueres über die Herkunft war ihm nicht zu entlocken. Der andere weiß nicht. Ein sehr vages Phantombild also, und wenn man ihnen zum jetzigen Zeitpunkt einen Verdächtigen vorführt, droht die Identifizierung ein reines Glücksspiel zu werden. Bei zwei Junkies kaum verwunderlich. Die ersten Überprüfungen an der Tankstelle Porte de Paris haben noch nichts erbracht, weil der Angestellte, der gestern um siebzehn Uhr dort war, inzwischen gegangen ist und erst morgen um vierzehn Uhr wiederkommt. Bis dahin ist er nicht erreichbar.«
»Es stellt sich allerdings eine ernste Frage«, fährt Denoël, der zweite Inspektor, fort. »Das war keine Profiarbeit. Die Ausführenden haben für gewöhnlich nie direkten Kontakt mit dem Auftraggeber. Ist es wirklich denkbar, dass jemand solchen Armleuchtern einen Mordauftrag erteilt?«
»Stimmt schon, das Ganze wirkt etwas stümperhaft«, sagt Daquin. »Das müssen wir im Hinterkopf behalten. Folgt man aber ihrer Version, war kein Polizistenmord geplant. Und der Auftraggeber musste rasch handeln. Nadine Speck hat Romero vor zwei Tagen in der Präfektur angerufen. Wir haben in Romeros Unterlagen den Hinweis auf ein Telefonat mit ihr gefunden, unter den Initialen N.S., vergangenen Dienstag um neun Uhr dreißig. Und auf die Verabredung heute Morgen um zehn in Levallois. Kaum zwei Tage, um den Mord zu organisieren.«
Lavorel und Le Dem betrachten angelegentlich die vor ihnen liegenden Akten. Gewiss, man hat den Hinweis auf Nadine Specks Anruf und die Verabredung gefunden, allerdings in Romeros privatem Terminkalender bei ihm zu Hause, nicht im Dezernat. Und beim Datum vom letzten Dienstag hat er notiert: 9 : 30 N. S. tel. (Martinon). Und der Name Martinon ist sämtlichen Teammitgliedern gänzlich unbekannt. Aber man gibt sich keine Blöße.
Daquin fährt fort: »Achtundvierzig Stunden, um einen Mord zu planen, das ist kurz, wenn man keine Erfahrung hat und auf keine Organisationsstruktur zurückgreifen kann. Und eins müssen wir wohl zugeben: Wir wären den beiden Armleuchtern nie auf die Spur gekommen, wenn sie nicht dummerweise zwei fabelhaften Kontaktbeamten über den Weg gelaufen wären, die während der Dienstzeit einen gehoben haben. Eine recht außergewöhnliche Sachlage, nicht wahr, Commissaire?«
»Waschlappen wie die brüsten sich am Ende immer mit ihren Heldentaten, und über die Junkieszene kommt uns das irgendwann zu Ohren.«
»Sicher, aber zu spät. Außerdem sind Vorstadtpflanzen zarte Gewächse, ein Motorradunfall, eine Abrechnung, eine Überdosis … Nein, ich finde die Durchführung nicht schlecht. Wir werden nämlich noch viel Glück brauchen, um die Spur bis zum Auftraggeber zurückzuverfolgen.« Glück. Wie oft hat er zu Romero gesagt, er sei ein guter, weil vom Glück verwöhnter Polizist?
»Lassen Sie uns jetzt über das Mädchen sprechen«, sagt Gonzalès, den Blick auf eine aufgeschlagene Akte gerichtet. »Nadine Speck war neunzehn Jahre alt, sie wohnte in Lisle-sur-Seine, zusammen mit ihrem Bruder, der dort Stadionwart ist. Ein hochanständiger Typ, dem Commissaire von Lisle-sur-Seine zufolge, der ihn gut kennt, sie treffen sich regelmäßig, um Sicherheitsfragen rund um die Spiele zu besprechen. Ein Arbeitstier, nie auffällig geworden. Das Mädchen scheint keiner nennenswerten Tätigkeit nachgegangen zu sein, strafrechtlich liegt aber nichts gegen sie vor. Der Commissaire von Lislesur-Seine hat Speck persönlich vom Tod seiner Schwester unterrichtet, die er zuvor in der Leichenhalle identifiziert hatte, ohne jedoch zu sehr ins Detail zu gehen. Tatsächlich hat er ihm erzählt, dass sie wahrscheinlich zufällig getötet wurde, bei einer Abrechnung zwischen rivalisierenden Banden …«
Daquin verzieht das Gesicht. Das gefällt mir nicht. Ein Moment Schweigen. Dann sagt er mit undurchdringlicher Miene: »Wir greifen das alles morgen noch einmal auf.« An die beiden Inspektoren der Mordkommission gewandt: »Wir haben um fünfzehn Uhr einen Termin im Büro von Richter Bertrand in Nanterre. Wir werden ihn bitten, uns mit diesem Fall zu betrauen, in Zusammenarbeit mit Ihnen.«
Es ist 19 : 40 Uhr. Romero ist seit fast zehn Stunden tot.
Lavorel fährt auf direktem Weg heim nach Saint-Denis, nicht weit von Levallois. Eine Vierzimmerwohnung in einem Sozialwohnungsbau im Stadtzentrum, neben der Basilika. Seine Frau Francine ist Grundschullehrerin und Stadträtin. Als er zur Tür hereinkommt, sind sie und seine beiden vier- und sechsjährigen Töchter gerade in der Küche und essen unter fröhlichem Gelächter Crêpes, die die Ältere nach Bedarf frisch bäckt. Die Jüngere hat eine Zuckerschnute. Der Clan der Frauen.
»Wir haben nicht so früh mit dir gerechnet, du hast nicht angerufen, dass du zum Essen zu Hause bist …«, sagt Francine und stockt. »Geht’s dir nicht gut?«
Sie lässt die Mädchen in der Küche allein, schließt die Tür, zieht ihn ins Schlafzimmer. Sie ist ein solcher Halt. Es ist nicht sicher, dass er nicht geweint hat. Eine Stunde später schläft er traumlos, vollgestopft mit Schlafmitteln.
Daquin ist ins Drogendezernat am Quai des Orfèvres 36 zurückgefahren. Er lehnt in seinem Sessel, die Füße auf dem Schreibtisch, der Geist träge. Wie viele Cognacs seit heute früh? Mindestens ein Dutzend … Romero auf offener Straße erschossen, dazu eine Unbekannte und Kokain. Hört sich zu Gonzalès sagen: Ein Polizistenmord war nicht geplant. Was weiß ich denn schon? Soll ich mich allein auf die Aussagen dieser zwei Junkies verlassen? Romero, zehn Jahre meines Lebens, kann ich mich so getäuscht haben?
Er sieht sich um. Die Holzschränke voller Akten, die Anrichte mit der Espressomaschine, die große Korkpinnwand, an der sich Nachrichten, Pläne, Adressen, Notizzettel, Termine drängen. Neben dem Schreibtisch der Tisch, die vier Stühle, zweckmäßig und nullachtfünfzehn, Hunderte von Besprechungen mit seinen Inspektoren. Verstörter Blick auf diese vertraute Umgebung.
Daquin steht schwerfällig auf, macht sich einen pechschwarzen Espresso. Stille. Das Büro liegt einsam am Ende eines Flurs im obersten Stock des großen Gebäudes, und sein Fenster geht zum Hof. Allein. Keine Lust, heute Abend allein in das efeuüberwucherte stille Häuschen in der Villa des Artistes zurückzukehren. Blick auf die Armbanduhr. 20 : 30 Uhr. Sam muss noch in der Redaktion sein, er hat Bereitschaft. Anruf.
»Sam, ich brauch dich heute Nacht. Sehen wir uns nachher bei mir?«
Noch ein Espresso. Daquin schaltet den Computer ein, er muss für das Treffen mit dem Richter morgen Nachmittag einen Bericht anfertigen. Mit zu viel Promille und dem Kopf voller Bilder von Sams dargebotenem nacktem Körper. Erstes Ziel, die Ermittlung unbedingt im Drogendezernat behalten. Romero wurde bei einem Treffen mit einem Spitzel erschossen, im Rahmen einer Ermittlung, mit der ich ihn betraut hatte … Welche Ermittlung? Kokain, Levallois … ich brauche einen Anknüpfungspunkt. Eine Folgerecherche im PAMA-Fall vom letzten November, ein Kokainring im Umfeld der Bürotürme von La Défense. Der Doppelmord beweist die Existenz dieses Rings und seine Macht. In Zusammenarbeit mit dem kriminaltechnischen Labor konzentriert sich unsere Ermittlung auf die Waffen und das Geld aus dem Auftrag. Und auf die Identifizierung des Auftraggebers, indem wir uns Romeros Akten noch einmal vornehmen. Was nur wir tun können.
Aufblitzen der kräftigen Schenkel, der Blässe des Hinterns, rund, muskulös.
Auch wenn nichts richtig ins Bild passt, weder die beiden Armleuchter von Mördern noch Romeros fehlende Vorsichtsmaßnahmen noch letztlich das Vorhandensein von zwanzig bis dreißig Gramm Kokain am Tatort. Aber mit solchen Details wird sich der Richter nicht aufhalten. Ich werde ihm sagen, dass in dieser Sache Eile geboten ist. Spuren lassen sich leicht beseitigen, und die Verbindung zwischen den beiden Fällen ist schon jetzt so dürftig … Und natürlich kein Wort über besagten Martinon, solange wir nichts über ihn wissen.
Schluss für heute Abend. Es ist fast elf. Nur noch ein obsessiver Gedanke: Sam nehmen, jetzt. Pralles Geschlecht und surrender Kopf.
Als Daquin heimkommt, liegt der große Raum im Parterre im Dunkeln, doch im Zwischengeschoss brennt Licht. Er steigt die Treppe hoch, Stufe für Stufe, als sei dies die letzte Überlebenschance, als ginge direkt hinter ihm die Welt unter, mit jedem Schritt ein Stück mehr. Sam schläft, liegt nackt auf dem Bauch, die Arme gekreuzt, schwach beleuchtet von einer