Hugo. Der unwerte Schatz. Tino Hemmann
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Tino Hemmann
Der unwerte Schatz
Erzählungen einer Kindheit
Dritte überarbeitete Auflage
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Die Hintergründe zu diesem Buch wurden durch mich sorgfältig recherchiert. Einige Personen werden mit ihrem realen Namen genannt. Dies scheint mir wichtig, um die historischen Begebenheiten verständlich zu machen. Die Ereignisse haben so stattgefunden. Der Leipziger Junge Hugo Hassel ist das Pseudonym für unzählige ermordete Kinder, Professor von Rasch das Pseudonym der Mörder. Für das Buch wurden die Ergebnisse der Auswertung von Krankenakten und Erzählungen der Verwandten der Betroffenen auf wenige Protagonisten reduziert.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN der Erstauflage 3-938288-41-8 Copyright (2005) Engelsdorfer Verlag
Zweite überarbeitete Auflage ISBN 978-3-86901-555-2 Copyright (2007)
Tino Hemmann
Impressum der vorliegenden Ausgabe
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag in Leipzig
Coverfoto © Tino Hemmann
Alle Rechte beim Autor
Abschlusslektorat Birgit Rentz
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
www.engelsdorfer-verlag.de und www.tino-hemmann.de
Die letzte Fahrt (heimlich fotografiert, 1941)
Beispiel eines Rundschreibens
Inhaltsverzeichnis
Ein Buch, das Tote lebendig macht,
wird nie geschrieben werden.
Durchaus aber ist ein Buch dazu fähig,
Lebende vor dem Tod zu bewahren.
Prolog
Sahst du, mein Bruder, den leuchtend blutroten Himmel? Da die Sonne unterging, als wollte sie warnen: Die Nacht kommt, und es wird Blut regnen, viel Blut. Das Blut wird eines Tages trocknen, verkrusten, sich in Staub auflösen. Zurückbleiben wird die Leere in den Adern, der Schmerz aller Schmerzen, das Rauschen in den Ohren und die verblassende Narbe.
Nein, mein Freund, man kann schweigen, der eigenen Ruhe wegen. Doch wer allzu lang schweigt, den trifft die Ignoranz der Taubgewordenen!
Ich besitze nicht die Kraft, denken zu können; ungeboren noch, und doch gestoßen in eine Zeit des Sinnfremden; da die höllischen Schotte geöffnet wurden und sie sich aufschwangen zu Göttern, und zum Unwerten erklärten, was doch der größte Schatz sein muss. Für alle Zeit!
In jenem Jahr kam die Blüte der Obstbäume zeitig. In jenem Jahr wurde sie zerstört von den Eisheiligen. Und doch sollte es Obst geben, das unreif gegessen wurde. In jenem Jahr folgte ein Sommer dem Frühling, und es kam der Herbst, der Blätter welken und fallen ließ, der Stürme in das Land schickte, den Menschen Angst zu machen, weil der Winter ein Hungerwinter werden würde. Dieser ewige Winter, der die vorausgesagten eintausend Jahre jedoch nicht überdauern sollte und doch lang genug war, all das Leiden über mich zu bringen.
Denn das Frühjahr darauf würden viele Menschenkinder nicht erleben ...
»Hugo, sag, erinnerst du dich an die Zeit vor deiner Geburt?« Der Lehrer blickte den Jungen ernst an, und Hugo wusste sogleich, dessen Frage war auch ernst gemeint.
»Erinnern? – Nein! Bestimmt nicht, Herr Mengen. Aber geträumt habe ich davon.« Hugo lächelte. »Es war nur ein Traum, wissen Sie, nur ein Schein des Wahren. – Ich war ein dreiviertel Jahr in meiner Mutter, sie hütete und liebte mich, so gut es nur ging. Die Wärme und Ruhe, die Geborgenheit ... glauben Sie mir, ein ganzes Leben lang hätte ich sie genossen. Doch einen Tag vor Heiligabend lief das Fruchtwasser von mir, ich fühlte mich kalt und verletzlich – als wäre ich bereits in der Zukunft verloren.«
»In der Zukunft? Du wusstest damals von der Zukunft? – Und Fritz? Was war mit Fritz?«
So viele Fragen, die er stellte!
»Wir alle wissen von der Zukunft, Herr Mengen, schließlich entsteht sie aus dem, was wir tun. Nicht nur aus dem, was wir selbst tun. Großen Einfluss haben auch die anderen. – Und Fritz? Fritz ... Vielleicht war da eine Berührung! Ein fremdes Ärmchen stach mir, wie versehentlich, in die Seite, ein zweites Herz schlug neben meinem! Vielleicht sah ich seine winzigen Finger, die kleinen Füße, das helle, klebrige Haar, eingepackt im zähen Schleim, die schwebenden Nabelschnüre zwischen unseren Blicken. – Vielleicht glaubte ich, er hätte gelächelt.« Das Kind fasste die Hand des Lehrers, als wollte es den Mann niemals wieder loslassen.
Habe ich mit ihm gesprochen? Vielleicht sagte ich: »Bruder, mein Bruder, du sollst gemeinsam mit mir das Licht der Welt erblicken! Lass uns unvoreingenommen hinausgehen, lass uns unsere Familie begrüßen und das Leben genießen! Lass uns Freunde sein! Ein ganzes Menschenleben lang.«
Und er antwortete mir: »Freunde, ja Freunde!«
»Wie lang ist so ein Menschenleben?«, fragte