Regisseurstheater. Gerhard Stadelmaier
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GERHARD STADELMAIER
Regisseurstheater
Auf den Bühnen des Zeitgeists
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Gerhard Stadelmaier, geboren 1950, studierte Germanistik und Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Von 1978 bis 1989 war er Redakteur der »Stuttgarter Zeitung«, wechselte dann zur »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, wo er bis 2015 das Ressort Theater und Theaterkritik leitete. Zuletzt sind von ihm erschienen: »Parkett, Reihe 6, Mitte. Meine Theatergeschichte« (2010) und »Liebeserklärungen. Große Schauspieler, große Figuren« (2012).
Inhalt
Kopf hoch! Aber plötzlich! Das ist ein Überfall!
Und schier in Zähren wir ersaufen
Sentimentales Zwischenspiel mit Aylan, Angela, Nathan, Hamlet und anderen Flüchtlingskindern
Immer mehr Kultur, immer weniger Kritik
Szene mit Chefredakteur
Und was ist mit der Kritik? Was hat sie dabei noch verloren?
Der schöne Traum vom autonomen Kopf
Die Bühne als Zeitgeistmaschine
Was ist überhaupt und zu welchem Ende erdulden wir Regietheater?
Wunder aber gibt es immer wieder
Nennen wir es lieber Regisseurstheater
Theatralische Zeitgeisterfahrt in einem Zug
Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie.
Hugo von Hofmannsthal, »Der Rosenkavalier«, 1. Akt
Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt,
dann weiß ich es; soll ich es aber einem Frager klarmachen,
dann weiß ich es nicht; trotzdem aber behaupte ich voller
Selbstvertrauen, ich wüsste, dass es keine Vergangenheit gäbe,
wenn die Zeit nicht abliefe, und keine Zukunft, wenn nichts herankäme,
und keine Gegenwart, wenn nichts gegenwärtig wäre.
Aurelius Augustinus, »Confessiones«, XI. Buch
Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin.
Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.
Gottfried Keller, Sämtl. Werke und Briefe, 3. Band
Theater. Wenn ich bedenke, dass Gott,
der alles sieht, sich das hier auch ansehen muss!
Jules Renard, »Tagebuch«
Kopf hoch! Aber plötzlich! Das ist ein Überfall!
ZEITGEIST. Das sagt oder schreibt sich so leicht hin. Aber was für ein Geist ist er? Wo steckt er? Wie zeigt er sich? Wie hat man ihn sich vorzustellen? Man stelle ihn sich bitte nicht als Dramatiker vor. Denn »die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden«, wie Gotthold Ephraim Lessing in der »Ankündigung« seiner »Hamburgischen Dramaturgie« (1769) schreibt. Der Witz des Zeitgeists besteht aber gerade darin, dass er weder zu rechtfertigen ist noch »immer wieder vor die Augen gelegt« werden kann. Er ist sowohl reine Willkür wie reine Flüchtigkeit. Heute hier, morgen schon wieder fort. Und übermorgen ganz woanders. Also stellen wir uns ihn lieber als Schauspieler vor. Dessen Kunst, so Lessing am selben wunderkritischen polemischen Ort, ist ja »in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.« Der Zeitgeist also benötigt, um zu wirken, zu wabern und zu wesen, notwendig die Launen, Modenlüste, Sentiments, Schwindeleien und Wechselwindigkeiten derer, die ihm gestatten, dass er auf sie wirkt. Und vor allem: Er trägt Masken. Sie stellen sein stärkstes Wirkungsmittel dar. Nicht nur indem sie sein Gesicht verbergen, das nicht einmal ein wahres Gesicht sein muss, um sich seines Versteckens sicher sein zu können – sondern indem sie in demjenigen, der auf sie schaut, eine seltsam paradoxe Begierde erzeugen, die sich in einem Glückserfüllungsgefühl staut.
Ob nun ganze Gesellschaften und Völker sich freiweillig zu Sklaven machen und wie gebannt auf die kleinen, glasummantelten, handschweißverschmierten viereckigen Geräte starren, die ihnen stets und ständig Signale übermitteln, denen sie offenbar derart trauen, dass sie sich und ihre Körper fast nur noch als Anhängsel dieser Geräte zu spüren scheinen, wie in Trance fremdgesteuert und seltsam vor sich hin brabbelnd in Bussen und Bahnen sitzend oder durch Straßen und Büros taumelnd, oder ob sich ganze Gesellschaften und Völker wie auf Kommando weltweit, ob in Fabriken, in Wüsten oder Dschungeln oder in Theatern oder einfach im häuslichen Rahmen, in die gleichen grobstoffigen, vernieteten Hosen zwängen – immer liegt dem kollektiven Wahn ein höchst individuelles Versprechen zugrunde: Es ist alles nur für dich – und nur für dich allein! Obwohl es Millionen so empfinden, fühlen und handhaben. Auch hier ist