Ausbruch. Dominique Manotti

Ausbruch - Dominique  Manotti


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sich mit dem Gesicht zur Sonne, isst langsam ein Sandwich, trinkt kühles Wasser. Wo bist du hier, Mann? Verirrt. Der Sprung in diesen Container hat dich aufs falsche Gleis gesetzt. Geschieht dir recht. Du dachtest, dein Zellengenosse, ein Prolet und stolz darauf, politischer Gefangener, gebildet, guter Redner und großer Leser, wäre dein Freund geworden, der Freund eines Kleinkriminellen, der kaum lesen kann und keine drei Sätze am Stück rausbringt. So ein Schwachsinn. Solche Dinge passieren nie. Sitzengelassen wie eine Tussi. Bitterkeit und Groll. Na gut, du weißt nicht, wo du bist, aber weißt du, wo jetzt hin? Bild von dem Wagen, wie er am Vorabend am Seeufer davonfährt. Ich weiß, wohin, dort lang geht’s hier raus. Und dann? Rom? Meine Familie? Die Tür hab ich zugeschlagen, ich geh nicht als Besiegter nach Hause zurück. Und die Bullen werden vor mir da sein. Zurück zu meiner Bande am Hauptbahnhof, wieder anfangen, Touristen auszurauben und Schmuggelzigaretten zu verticken? Der ständige Kampf jeder gegen jeden, um einen Lappen, ein Mädchen, eine Stange Fluppen, die Bullen, die sich jeden kaufen, den die Kumpels gerade verpfeifen wollen, mich neben den setzen, der mich vielleicht verpfiffen hat, und ihm die Hand drücken. Der Dreck, die Gewalt, ständig zugekifft. Keinen Bock mehr. Im Knast hab ich mir was anderes erträumt.

      Wenn sie dicht nebeneinander auf der schmalen unteren Pritsche saßen und sich einen in der Hand verborgenen Joint hin und her reichten, redete Carlo ohne Unterlass, mit sehr leiser Stimme, in der hier und da von trostlosen Schreien, dumpfen Schlägen in den Wänden, patrouillierenden Wärtern zerrissenen Nacht. Er erzählte seine Erinnerungen, düstere zunächst, von seinen Anfängen als ganz junger Mann in den Mailänder Fabriken, wo er sich im brutalen Arbeitsleben verloren fühlte. Nach kurzer Zeit begannen die Arbeiteraufstände der späten Sechzigerjahre. Carlo erzählte von den bald schon täglichen Versammlungen in seiner Fertigungshalle, in seiner Fabrik, wo jedermann das Wort ergriff und wo jedermanns Wort gleich viel wog, wo man tastend ein kollektives Denken, einen kollektiven Willen entwickelte.

      Dann flammte Begeisterung in Carlo auf, wenn er beschrieb, wie sie fasziniert die Macht von Menschen entdeckten, die gemeinsam handeln, und die alle gleich sind, wie die Arbeitertrupps, die sich bei Versammlungsende spontan bildeten, von Halle zu Halle zogen und sich auf Entdeckungsreise begaben durch eine Fabrik, die bis dahin eine unbekannte und bedrohliche Welt gewesen war, in der sie sich nicht frei bewegen durften. Im Überschwang von Freude, Solidarität und Hoffnung glaubten sie, die Fabrik gehöre ihnen, sie werde zu ihrem Territorium. Wie so viele andere banden er und seine Genossen sich das rote Halstuch um, um ihren Stolz und ihre Entschlossenheit zur Schau zu tragen. Sie verjagten die verhassten Werkmeister und begannen Arbeit und Produktion neu zu organisieren. Carlo erzählte auch von wilden Jubelausbrüchen wie in jener Nacht in Mailand, in der er und seine Freunde zeitgleich sämtliche Wagen der Werkmeister in Brand gesteckt hatten. Ein betörendes pyrotechnisches Freudenfest, eine Art Machtübernahme über die Stadt, eine verdammt gute Rache, die zwar nicht von langer Dauer war, aber das zu erleben, wenigstens ein Mal in seinem Leben ... Filippo hörte atemlos zu. Er fühlte jedes Wort in seinen Muskeln vibrieren. In die Fabrik hatte er nie gewollt, die Arbeiter, die Sklavenschinderei, nein danke. Aber die zusammengeschweißte Gruppe, auf Gedeih und Verderb solidarisch, Aufstand und kollektive Gewalt als Lebensform, die Aussicht, eines Tages alles plattzumachen, davon hat er immer geträumt, doch in den Banden von Rom stets nur ein sehr fernes und verzerrtes Echo seiner Träume gefunden, den Überlebenskampf jeder gegen jeden und die Verzweiflung, ohne sie je in Worte fassen zu können.

      Heute erinnert er sich genau: Er hat Carlo und die Mailänder Arbeiter beneidet.

      Carlo erzählte weiter: »Die alte Welt geriet durch unsere Aktionen aus den Fugen, wir erlebten den Anbruch einer neuen Zeit, aber wir fanden nicht die richtigen Worte und Sätze, um die Welt, die wir erdachten, zu beschreiben und ein ganzes Volk in dieses Abenteuer mitzureißen. Wir sprachen eine verknöcherte, überholte Sprache, jene Sprache, die wir geerbt hatten, jene der alten Welt, die wir doch zu Grabe tragen wollten. Deshalb verstand man uns zwangsläufig nicht, und ich glaube, wir verstanden uns auch selbst nicht. Hätte es in unseren Fabriken einen Victor Hugo gegeben, um von unseren Heldentaten zu erzählen, stell dir das nur mal vor ... unser Schicksal wäre vielleicht ein anderes gewesen. Man weiß es nicht. Es gibt solche Momente, wo Welten ins Wanken geraten können.« Und an dem Punkt verstummte er, versank in seine Erinnerungen und Träume. Filippo, im Dunkel neben ihm, Carlos Wärme direkt an seiner, lauschte nunmehr seinem Schweigen, zu Tränen gerührt, ohne sich zu fragen, warum. Victor Hugo, nein, das stellte er sich nicht vor, er wusste nicht, wer das war. Aber damals sagte er sich, eines Tages würde er es vielleicht wissen.

      In bedrückterem, verzweifeltem Ton fuhr Carlo fort: »Die Sache wurde sehr bald zu groß für uns, das haben wir wohl nicht richtig und wohl auch zu spät kapiert. Die Bosse organisierten die Wirtschaftskreisläufe neu. Das Schlüsselwort hieß jetzt Globalisierung der Märkte. Wir merkten, wie die Fabrik, unsere Welt, die einzige, die wir kannten, der Ort all unserer Kämpfe, unseres Stolzes und unseres Lebens überhaupt, uns entglitt. Produktionszweige wanderten ab, niemand wusste, wohin, es kamen andere Maschinen und mit ihnen eine andere Arbeitsorganisation, die Planungsabteilungen übernahmen die Macht, die Belegschaften zerfielen, wir spürten die Notwendigkeit, die Kampfzone auszuweiten, raus aus der Fabrik, um dort nicht unterdrückt zugrunde zu gehen. Und im Dezember ’69 zündeten die Handlanger der extremen Rechten, die italienischen Geheimdienste und die CIA in einer Mailänder Bank an der Piazza Fontana eine Bombe, siebzehn Tote, Dutzende Verletzte. Sagt dir das was, Filippo?«

      »Entfernt, es hat mich nicht interessiert. Das war in Mailand, sehr weit weg im Norden.«

      »Danach explodierten weitere Bomben. Brescia, der Italicus-Express. Die italienischen Geheimdienste ermordeten ihr eigenes Volk. Im Kampf gegen uns stifteten sie Chaos und Terror, um eine neue breite Front gegen die Kommunisten und die Roten zu schaffen. Bei unseren Demonstrationen waren wir zu Zehntausenden auf der Straße. Wir dachten, das Volk sind wir. Wir hielten uns für stark genug, es ihnen gleichzutun und sie außerhalb der Fabrik auf dem von ihnen gewählten Terrain mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen. Schließlich waren wir die Söhne der Russischen Revolution von 1917, der Turiner Arbeiterräte, der Kommunistischen Partei Italiens und des italienischen Widerstands. Die Erinnerung an die brutalen Kämpfe war in unseren Familien, in den Fabriken noch so lebendig, so nah.« Nach langem Schweigen sagte Carlo: »Ich werde dir eine Kindheitserinnerung erzählen.« Filippo war überrascht, Kindheitserinnerungen gehörten nicht zu Carlos üblichem Repertoire, aber er wartete schweigend ab. »Als kleiner Junge verbrachte ich die Ferien bei meinen Großeltern, Bauern in der Gegend von Bologna. Einmal im Jahr, immer am 5. August, vermutlich ein Jahrestag, nahm mich mein Großvater mit nach hinten in den Gemüsegarten, hinter eine Hecke. Wir gruben eine Metallkiste aus. Er öffnete sie. Sie enthielt zwei in Tücher gewickelte Pistolen. Jedes Jahr sagte er in feierlichem Ton: ›Walther P38-Pistolen, den Deutschen abgenommen.‹ Er nahm sie auf einer Decke auseinander, er fettete sie sehr sorgfältig, er hieß mich den Stahl berühren, den Fettgeruch einatmen, dann baute er sie wieder zusammen, packte sie wieder ein, und wir vergruben die Kiste wieder, immer an derselben Stelle. ›Damit man nicht an der falschen Stelle buddelt, wenn man sie mal braucht, manchmal muss es schnell gehen‹, sagte er. ›Meine Waffen aus meiner Zeit als Widerstandskämpfer. Man weiß ja nie.‹ Als ich sie Jahre später holen wollte, mein Großvater war lange tot, fand ich sie nicht mehr.« Carlo hatte einen Kloß im Hals. Er schwieg einen Moment. Dann fuhr er mit rauer Stimme fort: »Wir griffen also zu den Waffen, wir setzten jeden Tag unser Leben aufs Spiel, aber das ist nicht das Schlimme, das Schlimme ist das Töten. Und wir haben getötet. Ich habe getötet. Und unsere Väter haben uns verflucht.« Es folgte ein langes Schweigen. In Carlos Leben hatte die Vehemenz der Überzeugun- gen, das Ungestüm der Hoffnung alles fortgerissen, alles zerstört. Und Filippo betrachtete fasziniert die Trümmer.

      Dann sagte Carlo: »Das war eine andere Zeit. Mein Großvater hat all das nicht erlebt. Zum Glück. Dass er mich verflucht, hätte ich nicht ertragen. Schlaf, Filippo, morgen sind wir auch noch hier, dann können wir weiterreden.«

      Daraufhin kletterte Filippo auf die obere Pritsche und schlief glücklich ein, den Kopf voll unzusammenhängender Träume.

      Ich habe sechs Monate lang jeden Abend, jede Nacht zugehört. Heute, allein im Gebirge, im Stich gelassen, verraten, klingt das sonderbar.

      Vergiss das


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