Ausbruch. Dominique Manotti

Ausbruch - Dominique  Manotti


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macht in der prallen Mittagssonne ein Nickerchen, wäscht sich gelegentlich, nicht oft, in eiskalten Flüssen und sucht nachts Unterschlupf in verfallenen Hütten, unter Büschen, um zu schlafen so gut es eben geht. Er hält sich am Hang, ohne sich allzu weit von der Ebene zu entfernen. In den Dörfern, durch die er kommt, kauft er Brot und Käse. Pro Tag legt er gut zwanzig Kilometer zurück. Die Wege sind steil, das Laufen ist beschwerlich, zumal für ihn, der nie einen anderen Sport getrieben hat als den hektischen Sprint durch die Straßen von Rom, um den Bullen zu entwischen, aber es macht ihm ganz unerwartet Freude. Nach dem Lärm, in dem er die ganzen letzten Jahre gelebt hat, erst in den besetzten Häusern Roms, dann im Gefängnis, entdeckt er jetzt die Stille des Mittelgebirges, gewöhnt sich nach und nach daran, empfindet sie als schützenden Kokon, in den er sich schmiegt, horcht darauf, was sein Körper ihm sagt, seine sich ausbildenden, kräftiger werdenden Muskeln, seine sich tief mit Luft füllende Lunge. Er horcht auf die Wörter und Sätze, die in seinem Kopf Gestalt annehmen, ohne Ordnung und ohne Ziel, und frohlockt darüber, sich frei zu fühlen, ohne Bindungen und ohne Zukunft.

      Eines Tages, er ist schon über eine Woche unterwegs, erblickt er hinter einer Wegbiegung am Übergang zwischen Ebene und Gebirge, gestochen scharf in der Sonne, wie ein zum Greifen nahes Spielzeug die strenge Silhouette einer ganz aus Stein erbauten Stadt, ein von Mauern umringter Wald aus Türmen, ein steinernes Universum in Gelb- und Weißtönen, aus dieser Entfernung keine Spuren menschlichen Lebens.

      Ein Gefühl großer Vertrautheit. Er hat diese Stadt, oder ihren Zwilling, schon einmal gesehen, auf einem großen gerahmten Foto. In der Kneipe Guidoriccio da Fogliano, wo seine Mutter ihn regelmäßig hinschickte, seinen Vater holen, wenn der zu voll war, um allein nach Hause zu finden, hing es hinter der Kasse an der Wand. Auf dem Foto bildeten die steinernen Städte den Gegenpart zu einem Eroberer in Rüstung und seidenem Waffenrock, aufrecht auf seinem Ross, das einzige menschliche Wesen weit und breit in einer mit Befestigungsbauten und Lanzen gespickten weißen Felsenlandschaft vor schwarzem Himmel, im Krieg gegen die ganze Erde und gegen alle Götter, eine bewusste Pose für die Ewigkeit. Die Einsamkeit war sein Reich. Dieser Eroberer menschenleerer Landstriche und verlassener Städte hatte lange Zeit die Tagträume des nach einer Identität suchenden Kindes Filippo bewohnt. Maßlos bewunderte er den großartigen siegreichen Krieger und zugleich Todesengel, der jede Form von Leben um sich herum auslöschte. Wenn er ihn neben sich heraufbeschwor, empfand er eine Mischung aus Angst und Sehnsucht, die ihn wohlig erschauern ließ. Seine besten Kindheitserinnerungen.

      Jetzt, am Ende der Welt auf einer unglaublichen Flucht, holen ihn diese Erinnerungen ein, und auch wenn heute die Angst vor den verlassenen Städten den Ruhm des Eroberers überstrahlt – eine Frage des Standpunkts –, macht dieses vertraute Bild Filippo Mut, gibt ihm das eigentümliche Gefühl, nicht ganz verloren zu sein. Er grüßt die Stadt von fern und setzt seinen Weg fort.

       4. März, Bologna

      Er läuft. Die Tage verrinnen, einer nach dem anderen, ohne Zwischenfälle, alle gleich, die Zeit hat kein Maß mehr. Nach zwei oder drei Wochen taucht eine wuchtige Kirche in Filippos Blickfeld auf, einsam liegt sie zwischen Bäumen auf einem Bergkamm. Er wagt sich bis auf den Vorplatz. Vor ihm fällt der Berg steil ab zu einer bis zum Horizont reichenden Ebene. Zu seinen Füßen, ganz nah, Bologna, mit seinen Türmen, seinen Campaniles, seinem von den neueren Stadtvierteln umschlossenen Altstadtkern aus braunem Stein und rosaroten Ziegeln, lebendiges buntes Treiben, das bis zu ihm heraufschallt. Er verharrt reglos. Durch das viele Laufen hat er schließlich sein Ziel erreicht, den Norden. Bittere Erinnerung an das Verlassenwerden, das ihn genau da hat landen lassen, wo er jetzt ist: auf einem Grat zwischen zwei Welten. Fest steht: Er ist verloren. Angst: »Du musst dich verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Woher weiß er, wann die Lage sich beruhigt hat? Sich verstecken, immerzu? Vor der Kirche beginnt ein Säulengang, halb Weg, halb Treppe, der fast schnurgerade zur Stadt hinunterführt. Die unzähligen gelb und rot gefärbten lichtdurchfluteten Arkaden künden von dem Glück, wieder auf menschliche Gesellschaft zu stoßen, auf belebte Straßen, auf Leute, die sich begegnen, drängeln, vielleicht miteinander reden. Überraschungen, Entdeckungen, Missgeschicke, die tausend Mosaiksteinchen des ständig pulsierenden urbanen Lebens, das Ende der Einsamkeit, dort, ganz nah, ein paar hundert Meter entfernt. Die Verlockung ist zu groß. Ohne länger zu überlegen, beginnt Filippo den Abstieg, fängt an zu rennen, stürmt den Hang hinab, springt von Stufe zu Stufe, mag kommen, was will.

      Nachdem er in einem öffentlichen Bad, beim Frisör und beim Barbier gewesen ist, kauft sich Filippo eine Zeitung und setzt sich auf eine Caféterrasse, um sie bei einem Espresso durchzublättern. Nicht, dass Barbierbesuche oder Zeitunglesen zu seinen Gewohnheiten zählen, aber diese Handlungen scheinen ihm angemessene Rituale zur Feier seiner Rückkehr ins Stadtleben. Er faltet die Zeitung auseinander, wirft achtlos einen Blick darauf und bleibt an der Titelschlagzeile hängen.

      Überschrift: GEHT DER ROTE TERROR WIEDER LOS? Unterzeile: »Ehemaliger Anführer der Roten Brigaden bei missglücktem Bankraub in Mailand getötet.«

      Kumpels von Carlo vielleicht? Der Artikelvorspann springt ihm ins Gesicht:

      Carlo Fedeli, einer der dienstältesten Aktivisten der Roten Brigaden, der vor drei Wochen aus dem Gefängnis geflohen war, wurde gestern vor der Mailänder Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Via Del Battifolle 10 bei einem versuchten Raubüberfall getötet ...

      Sein Blick verschwimmt, er krümmt sich auf seinem Stuhl, atmet stoßweise, Tränen steigen ihm in die Augen. Das Gefühl, im Stich gelassen, verraten worden zu sein, war so stark, dass er die Erinnerung an Carlo komplett verbannt hatte. Jetzt kehrt sie mit Macht zurück. »Versteck dich ... Pass auf dich auf.« Du hast mich nicht im Stich gelassen, du bist in den Krieg gezogen und hast versucht mich zu schützen. Ich aber dachte, du lässt mich fallen, ich habe dir nicht vertraut, der Verräter bin ich, ich schäme mich.

      Als er wieder ruhig atmen kann, liest er weiter.

      Gestern, am Freitag, dem 3. März, hält gegen 15 Uhr ein Geldtransporter vor der Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Mailänder Via Del Battifolle. Zwei Mann bewaffneter Geleitschutz, Massimo Gasparini und Fredo Albrizio, steigen aus und betreten die Bank, in der sie sich maximal zwei Minuten aufhalten dürfen. Sie sind Profis. Die Zeitpläne ihrer Touren wechseln täglich, um die Gefahr von Überfällen auszuschließen. Doch diesmal wurden sie erwartet.

      Kaum haben sie die Bank betreten, halten zwei Lieferwagen in Parkbuchten links und rechts der Filiale und versperren so die Sicht auf ein breites Stück Gehweg. Die beiden Wachmänner kommen heraus, einer trägt zwei Säcke, der andere hat die Hand am Holster. In dem Augenblick steigt Carlo Fedeli mit gezogener Waffe aus dem rechten Lieferwagen und brüllt dem bewaffneten Wachmann zu, er soll die Hände hochnehmen, während zwei Komplizen aus dem anderen Lieferwagen springen, um die Säcke in ihre Gewalt zu bringen. Genau in diesem Moment kommen zufällig zwei Carabinieri aus den Kundenräumen, wo einer der beiden, ein Stammkunde dieser Filiale, soeben Schecks auf sein Konto eingezahlt hat. Dann geht alles sehr schnell. Die beiden Carabinieri greifen zu ihren Waffen, Carlo Fedeli dreht sich um, richtet die Waffe auf sie, ein Schuss fällt, abgegeben von einem der Geldtransportbegleiter oder einem von Fedelis Komplizen. Carabiniere Lucio Renzi sieht sich bedroht, schießt und trifft Carlo Fedeli, der auf der Stelle tot ist. Seine beiden Komplizen begreifen, dass das Unternehmen gescheitert ist, feuern ihrerseits ein paar Salven ab, um ihre Flucht zu sichern, und töten Carabiniere Giorgio Barbieri, 28 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier kleiner Kinder von 1 und 3 Jahren, sowie einen der Geldtransportfahrer, Nino Gasparini, ebenfalls verheiratet und Vater einer fünfjährigen Tochter. Dann verschwinden sie, vermutlich auf ein oder zwei Motorrädern. Die beiden Lieferwagen waren gestohlen. Sie werden derzeit von Kriminaltechnikern untersucht, bislang ohne Ergebnis.

      Die Polizei hat die flüchtigen Komplizen noch nicht identifiziert, verfolgt aber eine heiße Spur.

      Erste Reaktion, idiotisch: Und wenn es gar nicht wahr ist? Er setzt eine unbeteiligte Miene auf, steht auf und kauft am nahe gelegenen Kiosk zwei weitere Tageszeitungen. Kehrt zu seinem Tisch zurück, faltet sie auseinander. Doch, da ist die Meldung, identisch. Auf einer der Titelseiten prangt sogar ein großes Foto von drei mit Planen zugedeckten Leichen,


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