Katzmann und das schweigende Dorf. Jan Eik
der hinkende Postbote mit der Fistelstimme, den alle Welt Tante Droll nannte. Zwar war den beiden die Antwort aus Langenleuba entgangen, doch hatte Annis Gesicht eine allzu deutliche Sprache gesprochen. Zwei Stunden später hatte jeder Wulkersbacher gewusst, dass der Geisler-Ferdinand Hof und Familie mit unbekanntem Ziel und anscheinend auf Nimmerwiedersehen verlassen hatte.
Die Geislers waren die Allerletzten gewesen, die davon erfuhren. Am meisten hatte sich die Magd Elsa über das Gerücht empört, bis Anni sie mit einem langen Blick und der Bemerkung zum Schweigen gebracht hatte: «Du meinst wohl, er hätte sich mit dir beraten, bevor er sich davonmacht?»
Elsas ohnehin gesunde Gesichtsfarbe war um einen Schein dunkler geworden, und Siegfried hatte sich verpflichtet gefühlt, ihr beizustehen. «Was soll das jetzt, Mutter?», hatte er gefragt, obwohl er natürlich ebenso wie alle anderen am Tisch wusste, was gemeint war. Elsa, ein paar Jahre älter als er, war eine handfeste Person und kein Kind von Traurigkeit, wie gemunkelt wurde. Anni war es nie gelungen, einen Beweis für die Untreue ihres Mannes zu finden oder sich gar damit durchzusetzen, Elsa vom Hof zu jagen.
«Finde erst mal eine Magd wie die!», hatte sogar Heinrich jedes Mal lebhaft widersprochen. Der Alte liebte es ja selber, hinter Elsa die enge Stiege zum Heuboden hinaufzusteigen oder ihr wohlwollend über den prallen Hintern zu streichen. Außerdem hatte er natürlich recht: Die Magd arbeitete unermüdlich wie ein Pferd, schaffte inzwischen zehnmal mehr als Anni mit ihren geschwollenen Gelenken. Die hatte nach Gunthers Geburt nach und nach ihren Widerstand gegen die mutmaßliche Nebenbuhlerin aufgegeben, zumal der heranwachsende Spross Tante Elsa abgöttisch liebte.
Siegfried hörte auf zu reden und schwieg nachdenklich. Noch immer war er nicht bei dem Mord angelangt, dessen Einzelheiten Konrad weit mehr interessierten als all die Familienintimitäten, die ihm nicht sämtlich neu waren.
Siegfried, der von Anfang an voraussetzte, Konrad würde die Nacht in Wulkersbach verbringen, hatte dem Wandschrank eine Flasche und zwei Gläser entnommen und immer wieder nachgeschenkt, wobei Konrad sich zurückhielt. Er war müde, fast so müde wie Harry, der zusammengerollt zu seinen Füßen schlief, ohne sich der Ehre bewusst zu sein, dies als fremdes Tier in der guten Stube tun zu dürfen. Man wohnte hier mit den Kühen unter einem Dach, allein schon der Wärme über dem Kuhstall wegen, die gute Stube aber war ein geradezu geheiligter Ort, den die Kinder nur zu Weihnachten betraten und die Erwachsenen auch nur an hohen Feiertagen. Ferdinand hatte versucht, Ausnahmen einzuführen, indem er sich gelegentlich mit schriftlichen Arbeiten in den einzigen Raum zurückzog, in dem ihn niemand störte, was Heinrich stets missbilligte. Er glaubte fest daran, besser rechnen zu können als der Sohn und Erbe, entbehrte aber seit langem eine passende Brille, die ihm das Lesen kleiner Buchstaben und Zahlen ermöglicht hätte. Kam die Zeitung ins Haus, versuchte er meist vergeblich, sich an den Überschriften zu orientieren.
Im Wandschrank der guten Stube, zu dem nur Ferdinand den Schlüssel besaß, wurde der bessere Schnaps aufbewahrt. Dort lagerte auch die Stahlkassette mit dem Bargeld. Einer Bank oder Sparkasse Geld anzuvertrauen kam in Wulkersbach niemandem in den Sinn - wusste man denn in so unruhigen Zeiten, was dort damit geschah? Seit dem Verschwinden der Silber- und Goldmünzen galt nur noch das Papiergeld der Reichsbank, der Sächsischen Bank in Dresden, des Leipziger Kassenvereins und der Chemnitzer Stadtbank. Deren Hundertmarkscheine waren nicht mehr viel wert. Zum ersten Mal tauchten sogar Tausender auf. Besonders ungern nahm man sogenannte Darlehnskassenscheine und windiges Notgeld in Zahlung.
Heinrichs Misstrauen, angeheizt durch die Anschaffungspläne des Sohnes, war immerhin groß genug gewesen, bereits am Tag nach Ferdinands Verschwinden den erheblichen Bargeldbestand zu überprüfen. Wie sich herausstellte, besaß Heinrich nicht nur einen zweiten Schlüssel für den Wandschrank, sondern insgeheim auch einen für die altertümliche Kassette. Und die war leer, sah man von der Feuerpolice und einem dünnen Geldbündel ab, das vermutlich nicht einmal ein Zehntel des vorher Vorhandenen ausmachte und wenigstens für die nächsten Wochen ausreichte. Auch acht über alle bösen Zeiten hinweg gehortete Goldstücke waren noch vorhanden.
Opa Heinrich hatte derbe Verwünschungen ausgestoßen und war gar nicht mehr losgekommen von der alten Geschichte, die vor hundert Jahren im Rauber passiert war. Davon beeindruckt, war der kleine Gunther am nächsten Tag nach der Schule hinaus zum Rauber gelaufen und hatte dort den toten Vater gefunden.
An diesem Punkt der weitschweifigen Erzählung angelangt, wurde Siegfried unterbrochen. Der Hofhund bellte, Harry knurrte, und gleich darauf kam Lärm im Hof auf, Schritte tappten über den Flur vor der Stube. Die Familie kehrte vom Leichenschmaus heim, und mit der Ruhe im Haus war es vorbei.
«Was ist das für eine alte Geschichte mit dem Rauber?», wollte Konrad dennoch wissen.
Siegfried winkte ab. «Am besten gebe ich dir die ganze Leichenpredigt», sagt er. «Da steht alles drin.»
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