Der schwarze Witwer. Horst Bosetzky
meine deine alte Flinte.»
«Die auch.» Dr. Florschütz rief seine Sekretärin und bat sie, ihn doch bitte zu Oberförster Anton Scharrach ins Kirnitzschtal durchzustellen. Nach ein paar Minuten war der «Mann im grünen Rock» am Apparat.
«Stimmt es, mein Lieber, dass wir heute Nachmittag um vier zur Hühnerjagd verabredet sind?»
«Ganz richtig, Herr Sanitätsrat. Die Jagdsaison für Stockenten und Rebhühner ist Anfang September eröffnet worden, und ich freue mich schon darauf, Sie und Ihre Freunde heute am Forsthaus begrüßen zu dürfen. Ihre Frau wird doch mit von der Partie sein?»
«Ja, das nehme ich an, und im Zweifelsfalle werde ich sie wohl überreden können.»
Gisela Florschütz, geboren 1884 in Leipzig als Tochter eines dort ansässigen Fabrikbesitzers, bezeichnete sich selbst als Flüchtling. Ich bin aus dem Land der Träume in die Villa Elb-Blick geflüchtet. hatte sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben, nein, ich bin abgestürzt wie einst Ikarus, wenn auch nicht im Meer ertrunken, sondern nur in die Elbe gefallen. Als höhere Tochter hatte sie im Kaiserreich eine angenehme Prinzessinnenrolle gespielt und hätte sich eigentlich damit begnügen können, ein bisschen Bildung zu erwerben und einige weibliche Künste zu erlernen, so die der gehobenen Konversation und der gezielten Verführung eines Mannes der höheren Stände, möglichst einen aus den Reihen des Adels. Doch sie hatte hoch hinausgewollt und sich gewünscht, ihren Namen in den Zeitungen, den Lexika und den Annalen der Film- und Schauspielkunst zu finden. Früh hatte sie Schauspielunterricht genommen und war dann auf den Bühnen einiger Provinztheater aufgetreten. Ihr großes Vorbild war Mia May gewesen – auch sie war Jahrgang 1884 und mit Die Herrin der Welt. Das indische Grabmal und Tragödie der Liebe eine der ersten Diven des deutschen Films –, doch außer einer kleinen Rolle in Das Kabinett des Dr. Caligari von Robert Wiene hatte Gisela Culitzsch, wie sie mit Mädchennamen hieß, nichts erreichen können. Aber nach dem Tod ihres Vaters hatte sie eine Menge Geld geerbt und sich schnell damit abgefunden, dass es für sie nur eine Rolle gab: die der Ehefrau und Mutter. Sie hatte den erstbesten Mann geheiratet, der ihr über den Weg gelaufen war – und das war Sanitätsrat Dr. Florschütz. Bei einem Wohltätigkeitsball in Leipzig hatte er sie zu einem Walzer aufgefordert. Liebe war es nicht gewesen, Gott, da hatte sie ganz andere Liebhaber gehabt – und hatte auch jetzt noch einen –, aber er machte als Mann wie als Arzt, Fabrikant und Politiker etwas her, und das Leben an seiner Seite war keinen Tag langweilig. Und man wusste ja nie, wie in der Politik die Würfel fielen – vielleicht wurde er eines Tages noch Minister. Dass er seine Amouren und Affären hatte, wusste sie, störte sie aber nicht. Wegzulaufen drohte er ihr nicht: Da er einen großen Teil seiner Unternehmungen nur mit ihrem Geld finanzieren konnte, hatte sie ihn fest in der Hand.
Es war Zeit, sich für die Jagd umzuziehen. Gisela Florschütz ging zu ihren Kleiderschränken, um zu sehen, ob ihr der alte Lodenmantel noch passte.
Von Pirna ins Kirnitzschtal brauchte man mit einem Kraftfahrzeug kaum mehr als eine halbe Stunde, und da die sechsköpfige Jagdgesellschaft über einen Audi Typ K und einen Mercedes-Benz Viano verfügte, war das Ganze kein Problem. Auf die Minute pünktlich hielten sie vor dem Forsthaus: der Hotelier und Gastwirt Gerhard Pöhlau, der Gymnasialdirektor Ludwig Hölzel, der DNVP-Politiker Heinrich Nobitz, der Apotheker Meinhard Müschen und Dr. Florschütz mit seiner Frau Gisela. Oberförster Anton Scharrach hatte sich schon am Straßenrand aufgestellt, um sie in Empfang zu nehmen.
«Waidmannsheil, die Dame, die Herren!», rief er und fuhr mit der rechten Handkante hoch zum Hut.
Dr. Florschütz lachte beim Aussteigen. «Noch danken wir nicht, noch haben wir ja nichts geschossen.»
Das Wetter war nicht berauschend, vorwiegend war es wolkig, nur ab und an kam die Sonne hervor – wenigstens aber gab es keinen Regen. Hölzel hatte sein Jagdhorn mitgebracht und blies ein Stück von Karl Stiegler. Daraufhin kam die Frau des Oberförsters und reichte allen eine kleine Erfrischung.
«Ah, da ist unser Zielwasser!», merkte Heinrich Nobitz an. Auch Gerhard Pöhlau war in heiterer Stimmung ins Kirnitzschtal gekommen und begrüßte Gisela Florschütz mit einem Handkuss. «We are pleased to welcome the daughter of the U.S. president in our hunting party.»
«Wieso sollte meine Frau die Tochter des amerikanischen Präsidenten sein?», fragte Dr. Florschütz.
«Na, sie ist doch eine geborene Culitzsch!» John Calvin Coolidge, Jr. war im letzten Jahr der dreißigste Präsident der USA geworden.
Fröhlich und beschwingt machte sich die Jagdgesellschaft auf den Weg ins Revier der Wildhühner. Auf breiteren Wegen ging man plaudernd nebeneinander, auf schmalen Pfaden sicherheitshalber hintereinander. Es gab Felder und Wiesen im steten Wechsel, und ab und an kreuzte man ein stilles Wäldchen. Fliegenpilze leuchteten rot aus dem Gras, Schmetterlinge aller Farben und Arten erfreuten Auge und Sinne, es roch immer wieder nach frisch gemähtem Gras. Es war eine Idylle, wie sie im Buche stand.
Langsam näherten sie sich dem Gebiet, das viel Wildgeflügel versprach. An der Spitze der Gruppe – an der Tete, wie man es nannte – ging Meinhard Müschen, der die Namen aller Pflanzen kannte und die anderen gern belehrte. Ihm folgten Ludwig Hölzel, Gerhard Pöhlau und Heinrich Nobitz. Die letzten drei waren Gisela Florschütz, der Sanitätsrat und der Oberförster, der gern alles im Auge hatte.
Plötzlich krachte ein Schuss. Und ein zweiter. Nahezu zeitgleich mit dem ersten.
Als Heinrich Nobitz herumfuhr, sah er Gisela Florschütz zu Boden sinken.
«Der Sanitätsrat hat seine Frau erschossen!», rief der Oberförster.
«Ich bin auf meine Schnürsenkel getreten», stammelte Dr. Florschütz. «Die sind offen … Ich bin gestolpert … Und da muss sich versehentlich der Schuss gelöst haben.»
Der Apotheker hatte sich neben Gisela Florschütz gekniet. «Mein Gott, sie stirbt!»
ZWEI
AM MORGEN DES 7. SEPTEMBER schob Konrad Katzmann sein Motorrad vor sich her. Die Glocken von Lockwitz läuteten dazu, wenn auch nicht seinetwegen, denn es war ein Sonntagmorgen. Katzmann, Dresdner Korrespondent der Leipziger Volkszeitung. war unterwegs nach Pirna, weil ihn sein Redakteur gebeten hatte, über den mysteriösen Jagdunfall im Kirnitzschtal zu berichten, dem die Gattin des Sanitätsrates Dr. Florschütz zum Opfer gefallen war.
Katzmann fluchte und schwitzte, denn er schob immerhin das größte von der NSU bis dato gebaute Motorrad, ein Schwergewicht mit 8 PS und 1000 Kubikzentimeter Hubraum. Es verfügte über einen Beiwagen mit Phaetonkarosse, und in dem saß und bellte Harry, ein Terrier, den er vor Jahren aus der Elbe gerettet hatte und der ihn seitdem begleitete.
Katzmann hätte auch ohne diese Panne schlechte Laune gehabt, denn aus ideologischen Gründen hatte er etwas gegen Jäger. Bis ins Mittelalter war die Jagd immer mehr zum Privileg des Adels sowie staatlicher und kirchlicher Würdenträger geworden, und auch in der Weimarer Republik war sie nahezu ausschließlich den oberen Zehntausend vorbehalten – für das gemeine Volk blieb der Kammerjäger. Dazu fiel ihm Der Freischütz ein. Katzmann hatte die Oper zweimal gesehen und konnte sich noch an vieles erinnern: Der Landesfürst und sein Gefolge erschienen auf der Bühne, um dem Probeschuss des Kandidaten für die Erbförsterei beizuwohnen. Der Chor besang die Freuden der Jagd: Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen? Der Landesfürst forderte den Jägerburschen Max auf, den Probeschuss abzulegen und eine Taube vom Baum zu schießen. Max legte an, zielte und drückte ab. Seine Agathe, die genau zu diesem Zeitpunkt mit ihren Brautjungfern das Gelände erreicht hatte, fiel – scheinbar getroffen – zu Boden. Schaut, o schaut, er traf die eigne Braut!
Es gab durchaus eine gewisse Parallele zum vorliegenden Jagdunfall, aber Dr. Florschütz war im Gegensatz zu Max ein gemachter Mann, und so sang Katzmann im Opernstil: «Das mit dem Probeschuss ist absoluter Stuss!» Harry empfand den Gesang seines Herrchens als widerliches Gejaule und begann, heftig zu bellen.
Nach ein paar hundert Metern erreichten sie eine Tankstelle, und einer der jungen Männer dort verstand einiges von Motorrädern.
«Ich