Der schwarze Witwer. Horst Bosetzky

Der schwarze Witwer - Horst Bosetzky


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hinauf nach Marienberg und von da wieder zurück zur Heinzebank. Durchschnittsgeschwindigkeit achtzig Kilometer pro Stunde. Hinter Gustav Muth bin ich Zweiter geworden, auf NSU.»

      «Gratuliere!» Katzmann streckte dem jungen Mann die Hand hin. «Dann können Sie mir ja vielleicht meine Kiste reparieren …»

      Das konnte dieser tatsächlich, und nach einer knappen Stunde knatterte Katzmann durch die ruhigen Straßen von Pirna. Seine Maschine schaffte sogar den Anstieg hinauf zum Schloss Sonnenstein, von dem aus er – so hatte man es ihm an der Tankstelle beschrieben – über die Berg-, die Schandauer und die Hohe Straße die Sanitätsrats-Villa an der Doktor-Friedrichs-Höhe erreichen konnte. Er ließ seine Maschine hundert Meter vor Erreichen des Zieles ausrollen, zog den Zündschlüssel ab und hob erst einmal seinen Hund aus dem Beiwagen.

      «So, Harry, such dir die schönste Toreinfahrt aus …» Wer hier wohnte, hatte ein Recht darauf, auch einmal mit den beschissenen Seiten des Lebens in Berührung zu kommen.

      «Guerre aux châteaux! Paix aux chaumières!»

      «Wie?», fragte Harry.

      Katzmann lachte. Manchmal hatte er das Gefühl, sein Hund würde mit ihm sprechen. Sicherheitshalber übersetzte er ihm den Spruch aus den Zeiten der Französischen Revolution: «Krieg den Palästen! Friede den Hütten!»

      Harry bellte zustimmend und legte postwendend eine wunderschöne Tretmine. Katzmann bedankte sich bei ihm und setzte ihn wieder in den Beiwagen. Was nun? Einen Plan hatte er nicht. Und als ihm nichts einfiel, murmelte er: «Da vertraue ich ganz meiner Intuition.» Ohne ein Hauch von Selbstironie war jeder Mensch unerträglich, und Katzmann wollte immer gut mit sich auskommen. Ein Glück, dass er Brillenträger war! So konnte er seine Sehhilfe erst einmal in die Hand nehmen und putzen. Das brachte Zeit. Er überlegte. Klingelte er jetzt bei Dr. Florschütz, machte garantiert keiner auf. Klar, der Schock. Wer seine Frau versehentlich erschossen hatte, befand sich am nächsten Tag ganz sicher in einem fürchterlichen Zustand und konnte leicht ein Fall für Schloss Sonnenstein werden, die Landesheil- und Pflegeanstalt gleich nebenan.

      Katzmann hatte Mitleid mit Dr. Florschütz und nahm sich vor, möglichst behutsam über den Jagdunfall zu berichten. Obwohl … Sanitätsräte, Unternehmer und DVNP-Politiker gehörten nicht gerade zu den Leuten, denen man in der Leipziger Volkszeitung allzu viel Sympathie entgegenbringen durfte. Nun, er musste sich erst einmal ein Bild von diesem Dr. Florschütz machen. Also trat er an den Gartenzaun – eine kunstvolle Schmiedearbeit – und spähte in den Garten. Nichts, kein Mensch, kein Liegestuhl. Es war so still, dass man die Bienen, die Wespen und die Mücken summen hörte. Bis zur Villa, die in toskanischen Farben getüncht war, mochten es dreißig Meter sein, und er hätte gern ein Fernglas bei sich gehabt. Doch das hätte auch nicht viel gebracht, denn vor allen Fenstern waren die dunkelgrünen Jalousien heruntergelassen worden. Er wartete noch ein paar Sekunden, dann drückte er auf den Klingelknopf, der zwar nur aus Messing war, aber glänzte wie echtes Gold. Nichts rührte sich. Auch sein zweiter Versuch war vergeblich. Gott, aus diesem Stillleben hätte nicht einmal ein Pulitzer-Preisträger einen Sensationsbericht machen können!

      Harry wurde die Sache zu langweilig, und er begann, heftig zu bellen. Er wollte seinem Herrn unbedingt etwas mitteilen.

      «Denk doch mal nach!», übersetzte Katzmann die Gedanken seines Hundes. «Es handelte sich um eine Jagdgesellschaft, es müssen demnach noch andere mit im Kirnitzschtal gewesen sein. Fahr doch mal zum Oberförster und frage den!»

      Katzmann bedankte sich bei Harry mit einem Hundekeks und startete durch. Ein Blick auf die Landkarte war nicht vonnöten, er kannte sich in dieser Gegend ganz gut aus. Aus Pirna raus nach Krietzschwitz, dann nach Königstein und immer an der Elbe entlang, bei Bad Schandau über den Fluss hinweg und auf der Kirnitzschtalstraße direkt zum Forsthaus. Es war eine landschaftlich wunderschöne Strecke, und er wunderte sich, dass er für ihre Benutzung keine Vergnügungssteuer zu zahlen hatte.

      Er erreichte sein Ziel ohne Zwischenfall und hatte das Glück, dass der Oberförster zu Hause und gerade dabei war, seinen Hunden das Futter in den Zwinger zu bringen. Die Meute gebärdete sich heftig. Das war ja noch schlimmer als auf dem Wochenmarkt, wenn der Händler die letzten Bananen verschenkte! Harry nutzte die Gelegenheit und bellte so laut und heftig mit, dass er sich verschluckte und ihm die Luft wegblieb.

      «Mensch, Harry», rief Katzmann, «bloß keine Mund-zu-Mund-Beatmung!» Als sich die Hunde auf ihre Fressnäpfe gestürzt hatten und Ruhe eingekehrt war, ging er auf den Oberförster zu.

      «Katzmann, Leipziger Volkszeitung. guten Tag! Entschuldigen Sie die Störung, Herr … Aber Sie werden ahnen, warum ich aus Dresden hergekommen bin …»

      «Sicher.» Der Oberförster gab ihm die Hand und stellte sich vor. «Anton Scharrach. Ja, ich war gestern dabei, als der schreckliche Unfall geschehen ist und Frau Doktor Florschütz … Gott, die arme Frau!» Scharrach schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als schäme er sich seiner Tränen.

      Katzmann schwieg einen Moment, um dem Mann Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen. «Es muss für Sie alle schrecklich gewesen sein …»

      «Wenn einer lange auf dem Krankenbett liegt und man Zeit hat, Abschied zu nehmen, ist es schon schwer genug – wenn aber jemand so mitten aus dem Leben gerissen wird, dann …»

      Katzmann merkte, dass Scharrach die Worte fehlten, um seine Gedanken auf den Punkt zu bringen, und fragte ihn, ob es möglich sei, ihn zum Unfallort zu führen.

      «Aber gerne.» Scharrach zeigte sich sehr bereitwillig. «Es ist ja Sonntag heute.»

      «Wunderbar.» Katzmann bedankte sich. «War denn die Kriminalpolizei schon da? Die ist doch bei solchen Gelegenheiten immer schnell zur Stelle.»

      «Ja, aus Pirna ist der Kriminalsekretär Georg Schlunzig gekommen, der hat sich alles zeigen lassen und auch die Flinte von Doktor Florschütz mitgenommen. Der hatte sie sich gerade erst aus London schicken lassen. Sie war ganz neu, und er hatte noch keine Erfahrung damit.»

      «Wo steckt er denn jetzt?»

      «Doktor Florschütz? Hier bei uns im Forsthaus, im Gästezimmer. Er ist gestern zusammengebrochen, und wir konnten ihn nicht allein nach Hause lassen.»

      Katzmann nickte. «Verständlich. Ob ich ihn nachher einmal sprechen kann?»

      «Ich glaube schon. Aber gehen wir erst einmal.»

      Katzmann nahm Harry an die Leine, und dann zogen sie los. Wenn es nicht Teil seiner Arbeit gewesen wäre, hätte er es als einen gemütlichen Spaziergang mit einem Freund genommen. Scharrach war ein angenehmer Begleiter, und Katzmann hätte gern gewusst, wie er denn über das Bild des Försters in der Gesellschaft dachte. «Einerseits», sagte er, «genießt der Förster bekanntlich ein hohes Ansehen, ist Staatsbeamter und trägt eine wunderschöne Uniform. Auch Max in der Oper Der Freischütz ist ja ganz wild darauf, Förster zu werden. Andererseits gibt es auch viele Romane und Novellen, in denen alle Sympathien auf Seiten des Wilderers, des Wilddiebs sind. Da ist dann der Förster der Böse, meist der hartherzige Handlanger eines ekligen Grafen – wie beispielsweise in Fontanes Quitt. Wie ist das denn bei Ihnen gewesen?»

      Scharrach musste nicht lange überlegen. «Mir ist es so ergangen wie dem Max: Ich wollte schon immer Jägerbursche werden, Förster, Oberförster. Bereits als Junge war das meine große Leidenschaft.»

      «Aber Sie kommen nicht aus Sachsen, jedenfalls hört man es nicht …»

      Scharrach lachte. «Nein, ich komme aus Bentschen, heute Zbąszyn´.»

      «Aus Polen also?»

      «Nein, als ich 1873 geboren wurde, hat Bentschen zu Deutschland gehört. 1793, nach der zweiten Teilung Polens, war es an Preußen gekommen, 1920 mit dem Versailler Vertrag aber wieder an Polen zurückgefallen. Ich war Oberförster in der preußischen Provinz Posen, dann ab 1914 Vizefeldwebel, das heißt Portepee-Unteroffizier im Brandenburgischen Jägerbatallion Nummer 3, und nach dem Krieg hat es mich dann der Liebe wegen nach Sachsen verschlagen. Die Waltraud, meine Frau, kommt nämlich aus Dresden, genauer gesagt aus Weixdorf. Als die Stelle hier im Kirnitzschtal


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