Mord auf der Messe. Uwe Schimunek
kommen gerade aus der Untergrundmessehalle. Von Flaute konnten wir nicht viel feststellen …»
«Ein paar Prozent mehr oder weniger sieht man nicht auf den ersten Blick. In den Messehallen drängen sich immer noch Menschen. Aber auch wenn die Arbeiterpresse es nicht gern hört, unsere Gesellschaft lebt davon, dass alles größer wird. Wer nicht wächst, der schrumpft, und wer schrumpft, der stirbt. So ist das in der Wirtschaft.»
«Vielleicht kommt daher das Unglück … weil keiner genug bekommen kann.» Eggebrecht kippte den Schnaps hinunter, als wolle er beweisen, dass es wirklich keine Grenzen gebe.
Stötzenau wirkte für einen Augenblick verwirrt. Dann hob er den Mund zu einem Grinsen. «Nun, es ist einer der Vorteile an unserem Wirtschaftssystem, dass wir die Bürger immer besser mit den grundlegenden Waren versorgen können. Möchten Sie noch ein Glas?»
Ein Kapitalist mit Humor, das kam Katzmann nicht so häufig unter. Wohin sollte das führen, wenn er mit einem Bourgeois in dessen Bureau saß und scherzte? Aber genau genommen galt der Scherz nicht ihm, sondern Eggebrecht, der gerade einen neuen Schnaps bekam. Bevor der Photograph vom Stuhl fiel, musste Katzmann das Gespräch in geordnete Bahnen lenken. «Noch mal zurück zur Messe. In welcher Größenordnung hat die Zahl der Gäste abgenommen?»
«Genaue Zahlen kann ich Ihnen nicht sagen. Wir haben bei den Ausstellern weniger Buchungen aus Deutschland und etwas mehr aus dem Ausland.» Stötzenau schwenkte sein Cognacglas, so dass die braune Flüssigkeit am Rand entlangzuschweben schien.
«So ähnlich wird das vermutlich auch bei den Gästen sein.» Katzmann schaute zu Stötzenau. Der Mann zeigte dieses Lächeln, das Leute aufsetzen, wenn sie sich überlegen fühlen. Aus dem würde er nichts Konkretes herausbekommen. Katzmann konnte das sogar verstehen, wer berichtete schon gern von Misserfolgen. Und für seine Artikel in der kommenden Messewoche hielt er sich sowieso besser an das Messefußvolk. Nichts erschien ihm langweiliger als Berichte mit Zitaten von Verlautbarern, davon gab es in den Texten über die SPD schon genug. Also Themenwechsel. Katzmann fragte: «Haben Sie schon mal was von der Blei-Bande gehört?»
Stötzenau zuckte. Beinahe wäre ihm das Glas aus der Hand gefallen. Er guckte zu Eggebrecht, dann erneut zu Katzmann, zögerte noch einen Moment und sagte: «Ähm, nein … eigentlich nicht.»
Eggebrecht lachte, als kitzle ihn jemand an den Füßen. Auch Katzmann musste schmunzeln.
«So, so, eigentlich nicht … Vielleicht überlegen Sie noch einmal …» Katzmann musste an den Oberkommissar denken und wie der berichtet hatte, dass die Kleinganoven bei den Messen im vergangenen Jahr verschüchtert geschwiegen hatten. Entweder Stötzenau gehörte zu diesen, oder die Bande sorgte nicht nur dort für Schrecken …
«Also gut …» Stötzenau hörte auf, sein Glas zu schwenken, und trank einen Schluck. «Aber ich kann nur sagen, was man so erzählt …»
«Klar doch.» Eggebrecht lallte ein wenig, schien aber wieder hellwach zu sein.
Stötzenau guckte genervt zum Photographen, wandte sich dann abermals Katzmann zu. «Mord, Erpressung, Schutzgeld, Betrug, Falschgeld. Alles, was Sie wollen, hört man über die Blei-Bande – nur nichts Genaues. Die Fäden zieht ein Doktor Blei, den noch nie einer gesehen hat. Und glauben Sie mir, Sie wollen auch nicht wissen, wer Doktor Blei ist, wenn Sie an Ihrem Leben hängen …»
Die ganze Stadt war voller Menschen. Eggebrecht und Katzmann liefen durchs Gedränge. Der Reporter schwieg, und Eggebrecht musste an seine Kindheit denken. Jedes Jahr am Messe-Sonntag hatte Vater die ganze Familie in die Straßenbahn gepackt – seine Schwestern, die Mutter und ihn. Zu fünft spazierten sie in ihren Ausgehanzügen unter den Werbebannern hinweg durch das Gedränge: die Petersstraße entlang, über den Markt, durch die Grimmaische Straße bis zum Augustusplatz. Für die Arbeiterfamilie aus Lindenau im Leipziger Westen waren die meisten Produkte unerschwinglich. Vater wollte dennoch auf dem Laufenden sein, die neuesten technischen Entwicklungen zumindest gesehen haben. Statt der Maschinen konnte sich der Vater nur die Bücher über den technischen Fortschritt leisten. Heinz Eggebrecht dachte an die Romane von Kurd Laßwitz, die er aus Vaters Bücherschrank nehmen durfte. Beim Messebummel guckte Familie Eggebrecht mit staunenden Augen in die Schaufenster und Buden. Die Schwestern fanden das bald langweilig und tollten herum, sprangen durchs Gewühl wie Flöhe durch ein Hundefell. Nach ein paar Minuten hatten Vater und Mutter vor allem darauf achten müssen, dass Helma und Helga nicht verlorengingen …
Eggebrecht dachte in letzter Zeit immer öfter an seine Kindheit in der Kaiserzeit. Damals hatte er vor allem eines gewollt: raus. Raus aus dem Leipziger Westen, weg von der Plackerei für karge Löhne. Weg von den Arbeiterkneipen, in denen stolze Proletarier nach dem zehnten Bier von der «Relulution» lallten, bevor sie unter den Tisch fielen.
Gleich nachdem er den Krieg überlebt hatte, war er deswegen in die bürgerliche Südvorstadt gezogen. Ein Großteil seines Lehrlingsgehaltes ging für das Zimmer zur Untermiete drauf. Es war ungefähr so groß wie eine Besenkammer, aber dafür konnte er zwischen Handwerksmeistern, Ladenbesitzern und Gymnasiallehrern wohnen.
Inzwischen zählte er selbst zu diesen Bürgern. Und nun erschien ihm seine Lindenauer Kindheit immer freundlicher – so, als hätte zwischen Leutzscher Holz und Lindenauer Markt immer die Sonne geschienen. Und so, als wäre in Berlin, wo er jetzt wohnte, immer November.
Abgesehen von der Ermanox, mit der er seine Photos schoss, nahm er nach wie vor kaum am technischen Fortschritt teil. Wozu auch? Er brauchte kein Automobil und kein Motorrad. Die Bahnen fuhren ihn in Berlin, wohin er wollte. Und einen eigenen Fernsprecher, wie ihn die Großbürger in ihren Villen hatten, brauchte er auch nicht. So oft war er nicht zu Hause. Nur einen Radioempfänger … ja, das wäre etwas, worauf es sich zu sparen lohnte.
Ein Mann rempelte ihn an. Heinz Eggebrecht schaute auf. Der Mann war Mitte vierzig, trug einen leger geschnittenen Sakko und hatte die Haare mit Pomade zu einem schwarzen Helm geformt.
«Oh, Pardon!» Der Mann sprach weich, als habe er die Daunen aus seinem Kissen verschluckt. Offenkundig ein Franzose.
«Schon gut.» Eggebrecht strich sein Jackett glatt, obwohl der Rempler dem Stoff nichts hatte anhaben können. Er guckte zu Katzmann, der stand neben ihm und schien sich nicht weiter für den Mann zu interessieren.
«’ätten Sie Freundlischkeit, misch sag’n, wo ist Marktplas?» Ganz klar ein Franzose. Der konnte froh sein, dass er hier unter netten Sachsen war! Eggebrecht musste daran denken, wie er in Paris versucht hatte, zu einem Phototermin zu gelangen. Sein Französisch ging sicher nicht als adlig durch, aber das größere Problem schien ihm, dass diese Franzosen einen Deutschen nicht verstehen wollten. Doch jetzt, wo er die Chance zur Rache hatte, kam er nicht aus seiner Haut und sagte: «Aber selbstverständlich. Sie gehen einfach die Grimmaische Straße hinunter.» Eggebrecht überlegte, ob er den Franzosen vielleicht in der Reichsstraße abbiegen lassen und ein paar Kilometer durch die Stadt schicken sollte. Aber sein Arm zeigte gen Markt. Eggebrecht fühlte sich wie eine Marionette seiner Erziehung, als würde die Gastfreundschaft ihn zum Deppen machen.
«Werde isch finde Üntergründmesse’aus?»
«Aber sicher, das können Sie gar nicht verfehlen. Gleich wenn Sie auf den Markt kommen, rechter Hand.» Eggebrecht kam sich vor wie einer dieser modernen Fließbandarbeiter, nur dass er keine Waren produzierte, sondern Freundlichkeit. Auch Katzmann neben ihm grinste.
Der Franzose nickte, deutete eine Verbeugung an. Es sah aus, als wolle er losgehen, doch dann zögerte der Mann, griff in die Innentasche seines Jacketts.
Die Bewegung wirkte beiläufig, beinahe etwas zu unauffällig für Eggebrechts Geschmack. Es war diese einstudierte Natürlichkeit, die Trickbetrüger auf Berliner Volksfesten und anderen Menschenaufläufen an den Tag legten. Seine Kollegen, die aus dem Gewühl berichteten, hatten ihm viele Gruselgeschichten erzählt. Er selbst bewegte sich deshalb mit äußerster Vorsicht zwischen Menschen. Auch jetzt tastete seine Hand nach der Brieftasche.
«’aben Sie ein ’inweis, wo isch kann Geld tauschen?» Der Franzose hatte ein Bündel Scheine aus dem Jackett gezogen und wedelte damit herum.
Wenn