DDR-Deutsch. Jan Eik
sondern bestes EG-Deutsch mit langer gesamtdeutscher Tradition.
BILD suchte und fand im Oktober 2009 die 34 schrägsten Wörter aus der DDR. Birgit Wolfs Wörterbuch Sprache in der DDR listet etwa 1900 Stichwörter mit zahlreichen Textbeispielen und weiteren Metastasen auf und stellt neben Die deutsche Sprache in der DDR von Horst Dieter Schlosser die vollständigste wissenschaftliche Arbeit zum Thema dar.
Pünktlich zum 60. Jahrestag der DDR wartete der MDR mit einer linguistischen Sensation auf: Angeblich, so der Berliner Kommunikationspsychologe und Schriftsteller Frank Naumann in seiner plausiblen Fiktion, habe Honecker eine eigene Landessprache einführen wollen. Wie BILD zu berichten wusste, gab es in den 1970er Jahren tatsächlich Bestrebungen der DDR-Führung, sich sprachlich von Westdeutschland abzusetzen. Ab 1976 hätten sich linientreue Linguisten der Universität Leipzig mit einer Vier-Varianten-These beliebt gemacht, nach der DDR-Deutsch eigenständig neben den Sprachen der BRD, der Schweiz und Österreichs existieren sollte. Doch selbst DDR-Wissenschaftler nahmen diese abwegige Behauptung nicht ernst.
Um sich sprachlich vom Klassenfeind abzugrenzen, wurden dennoch gezielt absonderliche Wortgebilde verbreitet. Stilblüten wie Überplanbestände statt Ladenhüter und Engpass statt Mangel oder Misswirtschaft fanden über die Medien Eingang in den allgemeinen, häufig ironisch gefärbten Sprachgebrauch. Man griente nur, wurde einem auf die Frage nach einem Ersatzteil die Antwort zuteil: Falls Sie kein gesellschaftlicher Bedarfsträger sind, ist die Lieferung im nächsten Fünfjahrplanzeitraum vorgesehen. Und dass im DDR-Duden Wörter wie Meinungsfreiheit oder Weltreise fehlten, fiel kaum auf, kam doch nicht einmal das in der Verfassung verankerte Post- und Fernmeldegeheimnis in der Praxis wie im Duden vor. Statt Reisefreiheit (eine West-Wortschöpfung) gab es in der DDR für Individualreisen nach dem Ausland ein einziges Reisebüro und ansonsten Reisestellen für die sorgfältig ausgewählten und überprüften Reisekader ins SW und NSW (sozialistisches respektive nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet), auch KA (kapitalistisches Ausland) genannt, im Geheimdienstjargon Operationsgebiet.
Sprache dient bekanntlich der Kommunikation und der Information. Information wiederum – so hat es der Autor auf einer Fachschule der DDR gelernt – ist beseitigte Ungewissheit. Weshalb die DDR-Führung hartnäckig darauf bestand, Ungewissheit der Information vorzuziehen und den Buschfunk den offiziellen Medien, lässt sich nur politisch-ideologisch (gesprochen polilogisch) und mit der Furcht vor dem nimmermüden Klassenfeind erklären. Der undurchsichtig-verschrobene Stil offizieller Verlautbarungen, Dokumente und Materialien genannt, nährte umlaufende Gerüchte und förderte eher Zweifel, als dass er Ungewissheit beseitigte. Ein Satiriker schlug vor, das knappe Papier der DDR-Presse mit Wellenlinien zu bedrucken, um den Klassenfeind zu verwirren – DDR-Bürger hätten ohnehin gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.
Bleibende Differenzen zwischen dem offiziellen DDR-Deutsch und der heutigen Sprache sind kaum zu erwarten. Die meisten Wörter und Wendungen sind mit ihren Quellen und Objekten ersatzlos untergegangen und halten sich nur in Memoiren und gelegentlichen Äußerungen ehemaliger Kader, die mitunter sogar Fehler im Wachstumsprozess des Sozialismus zugeben, die weiter verbessert werden müssen.
Überbleibsel in der Umgangssprache haben inzwischen eher regionale Bedeutung. Verständigungsschwierigkeiten ergeben sich nur, wenn sie beabsichtigt sind. Die Literatur der jeweils anderen Seite zu verstehen hat in den vierzig Jahren getrennter Entwicklung keine Schwierigkeiten bereitet, und dass zwischen Plaste und Plastik unterschieden wurde, bleibt ein Verdienst der DDR-Sprache.
Das Petschaft und der Abakus Quellen des DDR-Deutsch
Die sprachliche Ausgangslage war nach dem Ende der NS-Diktatur überall in Deutschland gleichermaßen schlecht. Noch lange nistete die von Viktor Klemperer so benannte LTI (Lingua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reiches) in den Köpfen, und aus manchen verschwand sie nie. Auch im DDR-Deutsch hinterließ das NS-Deutsch seine unguten Spuren. Dass mit einer gewissen Kontinuität wieder linientreue 150-Prozentige und Mitläufer mit einem Bonbon am Revers Propaganda machten, fiel den Menschen anfangs durchaus auf. Die Doppelbedeutung von Wörtern wie organisieren oder aufziehen blieb ebenfalls erhalten. Bald wählte man wieder spontan eine Einheitsliste, und die Jugend – soweit nicht arbeitsscheu und dem Rowdytum verfallen – versammelte sich unter Wimpeln und in Kluft zu Heimabenden und Fahnenappellen, Fackelzügen und Gelöbnissen, die zur alten wie zur neuen Weltanschauung samt Gesinnung gehörten. In den ersten Befehlen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) kamen die Begriffe ausrotten und liquidieren vor, und Walter Ulbricht sprach von Entarteter Kunst.
Manche Begriffe sind älter als die LTI, zählten jedoch zu deren bevorzugtem Vokabular. Der deutsche wurde im offiziellen Schriftverkehr durch den sozialistischen, unter ausgewählten Genossen gar kommunistischen Gruß ersetzt, und die Werktätigen der DDR trugen noch lange das 1935 eingeführte Arbeitsbuch in der Tasche. Selbst der (Klassen-)Gegner – in der Endzeit der DDR war von einem Feindbild die Rede – galt nach wie vor als plutokratisch und Objektivismus als eine Todsünde. Es wurden wieder heldenmütig Ernteschlachten geschlagen, der Sozialismus schritt sieghaft voran, und national wurde zunehmend auf die DDR angewendet.
In der Bürokratie wie in der Ideologie scheute man sich nicht, auf altdeutsches Sprachgut zurückzugreifen. Zwar gab es keine Beamten und kein Reich mehr, wohl aber die Deutsche Reichsbahn samt MITROPA. Ordens- und Titelsucht feierten fröhliche Urständ. Das Petschaft (in der DDR: die Petschaft), mit dem Wertgelasse, Panzerschränke und Büroräume gesiegelt wurden, galt als Daseinsbeweis mittlerer und höherer Kader.
Der Veteran kam im Arbeiter-, Partei- oder im Veteranenklub zu neuen Ehren, Armee, Betriebe und Schulen richteten Traditionskabinette ein. An den Universitäten tummelten sich Magnifizenzen, Dekane und Aspiranten, und auf die facultas docendi statt der schlichten Lehrbefähigung wurde Wert gelegt. Im Gesundheits- und Bildungswesen streute man großzügig Ehrentitel wie Sanitäts- und Oberstudienrat, und noch dem letzten Postgehilfen wurde ein Dienstrang attestiert.
In vielen Industrie- und Wirtschaftszweigen überlebte Überkommenes: das Vervielfältigungsverfahren Ormig beispielsweise oder die Kerb-Lochkarte, mit der selbst die Staatssicherheit lange hantierte. Die kümmerte sich z. B. zunehmend um den ausufernden Funkschutz im Nachrichtenwesen, den die Nationalsozialisten nach kommunistischen Anschlägen auf die Übertragungswege des Rundfunks erfunden hatten. Auch der Störsender war nicht neu.
Eine dritte, besonders munter sprudelnde Quelle sprachlicher Beeinflussung stellte in ganz Deutschland die Anwesenheit der Besatzungsmächte dar. Während sich der Westen bedenkenlos den Anglizismen ergab, ließ sich der Osten mit Substantivierungen, endlosen Genitivfolgen und bizarren Slawismen überschwemmen, von denen die meisten ebenfalls einen angloamerikanischen oder romanischen Ursprung haben: Dispatcher, Kombine und Kombinat, Brigade und Brigadier, Estrade und Magistrale, ja selbst das Territorium, die Organe und die vielzitierten Kader. Über das Russische gelangten Objekt und Aktiv, der Fakt(or), die Fonds, die Diversion und der Diversant, die Direktive und das Kollektiv, das Ambulatorium und der Stomatologe, die Initiative samt Prämie, das Normativ, die Havarie und die Kooperative, der Traktorist und der Agronom, Valuta, Rekonstruktion und Perspektive sowie die Universalvokabeln komplex und operativ in den ostdeutschen Sprachgebrauch, in dem die feierliche Manifestation, das Festival, die Estrade und das Ensemble zu neuem Ruhm aufstiegen. Kontor, das alte Wort für Büro, kehrte aus dem Osten heim. Sportvereine hießen (und heißen) nach sowjetischem Vorbild Dynamo, Motor, Traktor, Energie oder Turbine.
Die Zahl der tatsächlich aus dem Russischen stammenden Wörter blieb dagegen gering. Wodka, Datsche, Soljanka und Sputnik zumindest kannte jeder so gut wie den Unterschied zwischen Astronaut und Kosmonaut. Letzterer wohnte nicht irgendwo auf der Kolchose,