Der kalte Engel. Horst Bosetzky

Der kalte Engel - Horst Bosetzky


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      Auch ihre Tochter fand es sehr hilfreich, die Kusian in der Wohnung zu haben – wenn man schon vermieten musste, weil die Rente nicht reichte. Wenn Elisabeth Kusian zu Haus war und auf die Mutter aufpasste, konnte sie es schon mal wieder wagen, in Walterchens Ballhaus zu gehen. Nicht, dass sie die sprichwörtliche lustige Witwe war, aber vielleicht fand sich doch noch mal ein Mann. Ihr eigener war ja nun auch schon sechs Jahre tot. Vermisst jedenfalls. Aber … die Chance, noch einmal einen Mann fürs Herz zu finden, war geringer als die, im Toto zu gewinnen. Die Besten waren ja alle im Kriege geblieben. Meistens blieb ihr nichts anderes übrig, als mit Frauen ihres Alters zu tanzen. Warum war sie nicht fünfzig Jahre früher auf die Welt gekommen? »Dann wärst du jetzt schon tot.« Auch ein Trost.

      Sie ging in das Zimmer der Untermieterin, um noch ein Brikett nachzulegen. Früher war das ihr Herrenzimmer gewesen, durch eine zweiflügelige Tür mit dem Wohnzimmer verbunden. Diese war jetzt auf beiden Seiten mit einem Schrank zugestellt, und außerdem hatte ihr Tischler sogenannte Sauerkrautplatten dagegen genagelt, so dass man nicht hören konnte, was nebenan geschah. Ihre Mutter hatte es so gewollt.

      »Ich würde mich zu Tode schämen, wenn ich das Liebesleben anderer Menschen verfolgen müsste.« Hertha Stöhr hätte gerade das sehr reizvoll gefunden, jedoch des lieben Friedens wegen schließlich nachgegeben. Aber eine »Tapetentür« war es dennoch geblieben.

      Sonderlich feudal war das Zimmer nicht. Eine ausgeblichene Blümchentapete mit dem Grundton Mais, verwaschene Vorhänge in einem Altrosa, das mehr und mehr ins Graue überging. Ein schmales Bett und eine Auszieh-Couch. Kleiderschrank, Waschtisch, Schreibtisch – alles aus den ersten Jahren ihrer Ehe und ziemlich abgewohnt. Frisch war nur ein Tannenzweig mit einer roten Kerze. Die Untermieterin war eine sehr ordentliche Frau. Alles war aufgeräumt, auf dem Teppich lag auch nicht der kleinste Fussel. Eigene Sachen hatte die Frau Kusian kaum mitgebracht. Nur einen Wecker, einen kleinen Radioapparat, ein Foto, das einen Arzt vor einer großen Klinik zeigte und die Widmung Meiner geliebten Tochter Elisabeth trug. Dazu kamen natürlich Schuhe und Kleidung, aber auch da brauchte und hatte sie nicht viel, da sie ja zumeist ihre Schwesterntracht trug. »Eine einfache Frau mit einem großen Herzen«, sagte die Portiersfrau von der Kusian, und Hertha Stöhrs Mutter brachte die Bergpredigt mit ihr in Zusammenhang: »Selig sind die Barmherzigen …« Die Vermieterin kam sich richtig schäbig vor, dass sie der Kusian jeden Monat Geld abnahm.

      Sie verließ das Zimmer und wandte sich zur Küche, um das Teewasser aufzusetzen. Ihre Mutter folgte ihr.

      Hertha Stöhr stutzte. »Was ist denn das hier für’n Blutfleck unten am Küchenschrank?«

      »Ich hab’ wieder Nasenbluten gehabt, Hertha. Mein Blutdruck ist wohl wieder zu hoch. Manchmal habe ich das Gefühl zu platzen.«

      »Ja, natürlich: das fette Essen die letzten Jahre und dein Übergewicht.«

      »Du Lästermaul, du!« Die Katechetin war dürr geworden wie eine Vogelscheuche. »Denke immer an Salomo 4, Vers 24: Tue von dir den verkehrten Mund und lass das Lästermaul ferne von dir sein.”

      Hertha Stöhr musste auf eine Erwiderung verzichten, da an der Tür geschlossen wurde. Wenig später stand Elisabeth Kusian in der Küchentür. Selbstverständlich in Schwesterntracht. Man begrüßte sich herzlich.

      »Möchten Sie auch eine Tasse, Schwester Elisabeth?«

      »Ja, gerne. Wenn ich mich einen Moment setzen darf? Mit meine Beine, da …«

      »Mit meinen Beinen«, wurde sie von der Katechetin verbessert.

      »Entschuldigung. Aber meine Mutter war eine ungarische Gräfin, da haben wir nicht so gutes Deutsch gelernt.« Die Krankenschwester hing ihren Mantel an den Garderobenhaken und setzte sich dann auf einen der vier Küchenstühle. Sie stöhnte. »Wir hatten noch eine Notoperation … Eine junge Frau, aber nichts mehr zu machen.«

      »Das Sie das alles so durchhalten!« Hertha Stöhr war voller Bewunderung.

      »Was meinen Sie, was wir im Krieg alles durchmachen mussten?! Dagegen ist das im Robert-Koch-Krankenhaus das reinste Kinderspiel. Aber ohne Aufputschmittel geht es trotzdem nicht.« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm eine Schachtel Zigaretten heraus.

      »Fahren Sie denn Weihnachten zu Ihrer Familie?«, fragte die Vermieterin.

      »Nein. Die treffen sich alle im Landhaus meines Bruders im Schwarzwald. Am Titisee. Mich wollen sie nicht dabeihaben, ich bin ihnen nicht standesgemäß.« Elisabeth Kusian wischte sich eine Träne aus den Augen. »Vielleicht kommt mein Schwager mich besuchen. Oder mein Kurt, wenn er keinen Dienst hat.«

      »Ist er Arzt?«, fragte Hertha Stöhr.

      »Nein. Leitender Kriminalbeamter.«

      Die Katechetin horchte auf. »Untersucht er auch das mit den Leichenteilen vom Stettiner Bahnhof?«

      »Ja, auch. Er hat viele Leute unter sich.«

      »Gibt es denn schon eine Spur?«

      »Über Dienstliches spricht er nicht mit mir. Er ist Witwer, und Kinder hat er auch keine.«

      Hertha Stöhr lachte schelmisch. »Na, vielleicht gibt es noch eine Verlobung hier unterm Weihnachtsbaum?«

      »Wer weiß …«

      »Sie können hier in der Küche so viel backen und kochen, wie Sie wollen, Frau Kusian. Die Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen.«

      »Ja, danke, gern. Wenn meine Zeit das zulässt. Ich muss ja auch noch Weihnachtsgeschenke kaufen gehen.«

      »Schenken Sie doch Ihrem Bekannten Karten für die Neue Scala am Nollendorfplatz«, riet ihr Hertha Stöhr. »Da gibt es das Phantom der Oper mit Nelson Eddy.«

      »Ich weiß nicht. Er ist mehr für das Praktische. Ich würde ihm ja gern einen neuen Herrenanzug schenken. 68,50 bei C&A. Aber den müsste er ja anprobieren, und dann ist das keine Überraschung mehr.«

      »Was wünschen Sie sich denn, Schwester Elisabeth?«

      »Ach …« Sie seufzte. »Nur, dass die alten Zeiten wiederkommen. Einmal wieder jung sein … Wie wir damals in Thüringen gefeiert haben. Da waren wir noch wer. Mein Vater hatte so viele dankbare Patienten, und Weihnachten haben sie in der Klinik immer kleine Stücke aufgeführt. Nun ja … Heute in der Zone, da ist ja alles enteignet.«

      »Verzweifeln Sie nicht, Schwester Elisabeth.« Die Katechetin hatte Trost aus dem 2. Paulusbrief an die Korinther parat: »Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.”

      »Apropos Stärke …« Hertha Stöhr gingen die religiösen Sprüche ihrer Mutter von Jahr zu Jahr mehr auf die Nerven.

      »Wenn Sie Wäschestärke brauchen sollten, Frau Kusian, ich habe von meiner Cousine genügend geschenkt bekommen. Die hat eine Drogerie in Schöneberg. Steht alles im Badezimmer.«

      »Herzlichen Dank. Sie sind so lieb zu mir.«

      »Jeder so, wie er es verdient«, lachte Hertha Stöhr.

      »So …« Elisabeth Kusian drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. »Dann werde ich mich mal in mein Zimmer zurückziehen.«

      »Sie können auch gern zu uns kommen und mit uns Karten spielen.«

      »Danke, sehr nett, aber ich möchte noch eine Runde ums Karree drehen, frische Luft schöpfen. Meine Kopfschmerzen. Ehe wieder eine Migräne daraus wird.«

      Hertha Stöhr hob warnend die Stimme. »Passen Sie bloß auf nachts auf den Straßen. Der Kerl da … Dass Sie nicht auch zerstückelt in den Ruinen liegen.«

      Gregor Göltzsch wollte eigentlich die Zeit zwischen Ladenschluss und Mitternacht nutzen, um mit seiner Inventur voranzukommen, doch immer wieder ließ er sich ablenken. Zumeist von der Reklame


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