Der kalte Engel. Horst Bosetzky

Der kalte Engel - Horst Bosetzky


Скачать книгу
an einen Hermann Seidelmann aus Sachsen erinnern. Ihnen wurde geraten, es einmal in der Casablanca-Bar in der Augsburger Straße zu versuchen. »Wenn jemand eene abschleppen will, denn da.«

      Sie machten sich auf den Weg und kamen sich immer deplatzierter vor, denn in dieser Gegend waren viele der pompösen Häuser aus der Gründerzeit stehen geblieben, und es roch noch immer etwas nach Bourgeoisie, obwohl die riesengroßen Wohnungen nun ganz sicher aufgeteilt und untervermietet waren. Dennoch: Es war nicht ihre Welt. Und sie wurden auch misstrauisch beäugt. Wohl als Gaunerpärchen, das hergekommen war, etwas auszubaldowern. Oder war das nur Einbildung? Hannes Seidelmann wusste es nicht. Wie auch immer: Er hatte große Hemmungen, an die schwere hölzerne Tür der Casablanca-Bar zu klopfen. Zu dieser frühen Stunde war noch gar nicht geöffnet. Schließlich bequemte sich ein muffliger Bediensteter, der Barkeeper offensichtlich, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen. »Was’n: Die Kripo schon wieder?« Hannes Seidelmann überlegte blitzschnell, ob es schon den Straftatbestand der Amtsanmaßung erfüllte, wenn er die Frage nicht verneinte, sondern so tat, als hätte er sie gar nicht gehört.

      Nein. Also reagierte er nicht, sondern hielt dem Barkeeper wortlos das Foto seines Bruders hin.

      »Ob der hier war …« Der Mann fuhr sich mit der flachen Hand über den kahlen Schädel. »Ja, gestern erst. Mit ’ner schönen Frau zusammen.«

      Das kam so prompt, dass die Geschwister es unbesehen glaubten. Sie hörten, was sie hören wollten: dass ihr Bruder noch am Leben war. »Ich hatte schon gefürchtet, ihm sei was zugestoßen«, sagte Gerda, und Hannes fügte hinzu: »Du wirst lachen, ich auch. Aber: Unkraut vergeht nicht.« Erleichtert fuhren sie nach Moabit zurück und kochten sich eine Kanne Hagebuttentee.

      Kaum hatten sie sich am Couchtisch niedergelassen, klingelte das Telefon. Als einer der wenigen Berliner seines Standes hatte Hannes Seidelmann einen Anschluss, aber er war ja Technischer Fernmeldesekretär bei der Post … und an der Quelle saß der Knabe. Es war die Vermisstenstelle. Man möge doch bitte in das Ost-Berliner Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße fahren.

      »Hat man meinen Bruder gefunden? Ist er …«

      »Weiß ich nicht. Es gibt da Gliedmaßen, die sich einem erwachsenen Mann zuordnen lassen, und wir benachrichtigen alle, die einen Mann als vermisst gemeldet haben.«

      »Ach so …« Hannes Seidelmann war beruhigt.

      Wieder pellten sie sich an und machten sich auf den Weg. Im Dezember bei Kälte und Dunkelheit durch die Berliner Ruinenlandschaft zu reisen, war kein reines Vergnügen, eher schon ein Abenteuer. Mit der 21 fuhren sie bis zur Invalidenstraße und stiegen dort in die 44 um, die sie bis zur Endstation Sandkrugbrücke brachte. Von dort war es nur ein Fußweg von ein paar hundert Metern. Aber die Gegend! Wenn einer das Fürchten lernen wollte, dann hier. Sie redeten nicht viel. Wozu auch.

      In der Hannoverschen Straße nahm sie ein hagerer und außerordentlich mürrischer Mann in Empfang und führte sie durch ein Labyrinth von Treppen und Gängen. Alles reine Routine. Schließlich waren sie am Ziel. »Keinen Schreck kriegen«, sagte der Hagere, und man sah ihm an, dass er sich genau darauf freuen würde. Über einen der stählernen Tische war ein weißes Tuch gebreitet, und darunter lag etwas: offenbar die Leichenteile, um die es hier ging.

      »Achtung!«, rief der Hagere und riss das Tuch so schnell zur Seite wie ein Zauberkünstler eine Tischdecke, wenn dabei Gläser und Geschirr nicht umstürzen sollten. »Hier haben wir zwei Unterschenkel mit Füßen dran, einen linken Oberschenkel und einen linken Arm. Der Rest, der fehlt noch … Nun gucken Sie mal, ob das Ihr Bruder ist.«

      Gerda Seidelmann schlug die Hände vors Gesicht, brach in Tränen aus und stürzte aus dem Saal, weil sie fürchtete, sich übergeben zu müssen.

      Auch Hannes spürte ein heftiges Würgen im Hals, schaffte es aber standzuhalten. Es war entsetzlich, sich vorzustellen, dass das … Er wollte die Augen zur Decke richten, zum Fenster, zum Wasserhahn, doch er schaffte es nicht. Wie von einer magischen Kraft wurden seine Blicke von den Leichenteilen angezogen. Vom Ungeheuerlichen. Das gab es nicht, das konnte doch nicht wahr sein, solche Bilder hatten nur die Leute im Kopf, die sie ins Irrenhaus steckten: »Ich sehe immer meinen Bruder vor mir, wie er in kleinen Portionen vor mir auf dem Tisch liegt. Fein säuberlich zerlegt.«

      Der Hagere wurde ungeduldig. »Na, was ist nun?«

      Hannes Seidelmann schwankte, musste sich festhalten. Die Hautfarbe stimmte schon … etwas weißlich … Auch die schwarzen Haare … Alles sprach dafür, dass Arm und Schenkel zu Hermann gehörten, Hermann waren. Aber … Nein, und abermals nein. Er hatte das Gefühl, dass sein Bruder erst dann wirklich tot war, wenn er zugab, dass die Teile ihm gehörten. Also sagte er wider besseres Wissen, dass er nichts identifizieren könne. »Wer auch immer das ist, mein Bruder ist es nicht.«

      Da stand seine Schwester hinter ihm, und Gerda Seidelmann war, nachdem sie sich nun wieder gefangen hatte, ganz Realistin: »Doch, das issa. Er ist doch gerade frisch am Hühnerauge operiert worden … Und hier am linken Fuß ist noch das Pflaster dran.«

      Elisabeth Kusian war noch im OP geblieben, um ein wenig Ordnung zu schaffen. Allein mit der Toten, die noch immer von den Lampen über dem Operationstisch angestrahlt wurde wie eine Schauspielerin vor der Kamera. Wieder einmal hatte alle ärztliche Kunst nichts genutzt. Zu weit war das Karzinom an der Gebärmutter fortgeschritten. Sie beugte sich über die Frau und schloss ihr die Augen. »Da, wo du jetzt bist, wirst du’s besser haben als hier …« In ihren langen Berufsjahren, zumal im Krieg, hatte sie zu viele Menschen sterben und zu viele Tote so liegen sehen, um noch irgendwie beeindruckt, geschweige denn erschüttert zu sein. Es war so, wie es war, und sie war mit dem Tod auf Du und Du. Jeden Abend ging die Sonne unter und jeden Winter war es kalt, was sollte man sich darüber aufregen.

      Andererseits … Die Operation selber, die nahm sie ganz schön mit. Wenn das Blut in Fontänen herausspritzte aus den geöffneten Leibern, wenn die Chirurgen wie die Schlachter in den Gedärmen wühlten. Und dann … Die Frau, die die Operation nicht überlebt hatte, war in ihrem Alter gewesen, auch Jahrgang 1914. Eine Serviererin aus Tiergarten. Was hatte sie bisher vom Leben gehabt – nicht viel. Und nun war alles aus, keine Chance mehr, sich auch mal ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Apropos Kuchen. Elisabeth Kusian dachte an die Lebkuchen, die sie für die Weihnachtsfeier der Krankenschwestern besorgen sollte. Das hatte sie glattweg vergessen. Ebenso wie das Julklapp-Geschenk für ihre Freundin Anni.

      Ihre Kolleginnen kamen, sie zum Mittagessen abzuholen. Sie war überaus beliebt bei ihnen, weil sie an allem Anteil nahm und Mittelpunkt der Gruppe war. Alle hatten Respekt vor ihr, denn in ihrem Personalfragebogen stand, wie sie längst herausgefunden hatten, dass sie die Frau des im Krieg gefallenen Chirurgen Dr. med. Wilhelm Kusian war und sogar angefangen hatte, selber Medizin zu studieren. Scherzend und schnatternd zog man durch die Gänge und aß dann in der Kantine zusammen Kartoffelsalat und gebratenen Fisch. Auch da ging es hoch her.

      Das Gespräch verstummte erst, als Oberschwester Anita an ihren Tisch getreten war. Ansonsten sehr zugänglich und alles andere als ein alter Drachen oder Dragoner, gab sie sich heute streng und inquisitorisch.

      »Der Ramolla macht mir die Hölle heiß, weil schon wieder etliche Geräte und Spritzbestecke verschwunden sind. Und sein Verdacht, meine Damen, richtet sich vor allem gegen Sie. Wenn mir eine was zu sagen hat, dann bitte nachher in meinem Zimmer.«

      Annemarie Gruschwitz verbat sich diese Anschuldigungen.

      »Der saubere Herr Verwaltungsleiter soll sich bloß vorsehen, dass er nicht bald mal ’ne Verleumdungsklage am Hals hat. Von dem lasse ich mich nicht länger beleidigen.«

      »Tatsache ist nun mal, dass bei uns gestohlen wird. Geräte, Medikamente …«

      »Zehn Prozent Schwund gehört zu jedem Laden«, lachte jemand.

      »Wir hören noch voneinander.« Die Oberschwester rauschte davon.

      Ihr Auftritt war schnell vergessen, man hatte Wichtigeres zu bereden, sowohl


Скачать книгу