Schwarzer Kokon. Matthias Kluger
schlich sie, in einem für sie viel zu großen Schlafanzug steckend (Veronika trug nicht die Satinkleider, die für Frauen ihres Standes üblich waren, sondern Schlafanzüge ihres Vaters), in die Küche.
Maarifa, die kleine, farbige Haushälterin mit grauen, kurz gekräuselten Haaren, zwinkerte ihr lustig entgegen. Viel zu dick für ihre Größe, unterstrich die pummelige Figur Maarifas liebevolles Wesen. Sie kannte Veronika seit deren Geburt und verbrachte, dank der Erlaubnis der Herrschaften, viel Zeit mit ihr. Vieles hatte Veronika von Maarifa gelernt, unter anderem das Kochen von schmackhaften Speisen, die Maarifa mit ihren schnellen dunklen Fingern zubereitete. Veronika betrachtete Maarifa nie als Sklavin – nein – Maarifa gehörte zur Familie.
»Was machst du denn hier um diese Zeit?«, fragte Maarifa und sah Veronika mit gespielter Verwunderung an. Natürlich wusste sie vom heutigen Ball.
»Ich bin so aufgeregt und konnte nicht schlafen und jetzt habe ich einen Mordshunger. Wie wäre es mit vier bis acht Broten zum Frühstück?«
»Sicher, nicht dass du dein Kleid sprengst?«, gluckste Maarifa.
»Dann geh ich halt in meiner Reithose, da passe ich immer noch rein.« Sie tänzelte und drehte sich vor Maarifa mit ausgebreiteten Armen, um ihre Figur zu zeigen, die man jedoch wegen des zu großen Schlafanzugs lediglich erahnen konnte.
»Ist ja gut; setz dich auf deinen Hintern und warte ab, was ich dir zaubere.« Maarifa deutete auf einen Schemel, der an der Seite der Küchentheke stand.
Veronikas Eltern würde es sicher nicht recht sein, ihre Tochter in diesem Aufzug bei ihr in der Küche frühstückend vorzufinden. Doch sie schliefen noch. Schnell hatte Maarifa belegte Brote sowie eine Tasse heißer Schokolade zubereitet. Veronika verschlang die ersten beiden mit wenigen Bissen und fragte mit vollem Mund zu Maarifa gewandt: »Was glaubst du, Maarifa? Werden dieses Jahr wieder so viele rosa Lampions hängen wie letztes Jahr? Sie leuchteten abends wie rosa Sterne.« Verträumt blickte sie an die Zimmerdecke, als ob dort dieselben Lampions angebracht wären.
»Na, spätestens in ein paar Stunden wirst du es wissen. Aber schau nicht zu sehr auf die Lampions, sonst entgehen dir die feinen Herren, die dich bestimmt zum Tanzen auffordern werden.« Maarifa lachte.
»Ach was«, entgegnete Veronika mit gespielter Gleichgültigkeit. »Die steigen mir beim Tanzen bloß auf meine neuen Schuhe und werden mich fürchterlich mit Themen wie die Handelsgeschäfte ihrer Väter, die Bestellung der Felder, bla, bla, bla langweilen.«
Doch natürlich war sie aufgeregt, die Söhne der Landbesitzer wiederzusehen, die sie sonst selten zu Gesicht bekam. Wie wird sich wohl Thomas verändert haben? Letztes Jahr zum Sommerball hatte er noch mächtig viele Pickel im Gesicht, was sie verwunderte, denn er war mit 24 Jahren längst aus dem Alter für Akne heraus. Trotz seiner Pickel fand Veronika Gefallen an ihm. Er hatte eine lustige Art zu reden und konnte spannende Geschichten über Indianer erzählen – eine tolle Abwechslung zur sonstigen Konversation der anderen jungen Männer.
Maarifa bereitete währenddessen das Frühstück für die Herrschaften zu und blickte seufzend auf vier Hühner, die sie vor Tagesanbruch geschlachtet hatte und nun für das Dinner der Herrschaften rupfen musste. Einem Huhn die Gurgel durchzuschneiden, war kein Problem für sie, das Rupfen hasste die Dicke jedoch.
»So, jetzt ist es Zeit, bevor dein Vater noch in der Türe steht und schimpft. Oder willst du im Schlafanzug auf dem Ball tanzen?« Sie wedelte Veronika mit der linken Hand zu.
Satt und glücklich sprang Veronika von ihrem Schemel, gab der kleinen Dicken noch einen flüchtigen Kuss auf die pralle Wange, dann huschte sie barfuß in Richtung ihres Zimmers im oberen Stockwerk.
Der jährliche Sommerball wurde jedes Jahr von einem anderen Plantagenbesitzer auf dessen Gut organisiert. Dieses Jahr war das Fest auf dem Anwesen von Mr. Baine, einem der begehrtesten Junggesellen des Tals.
Übermut
Washington D. C., 2001
Marc saß an einem langen Tresen, auf einem jener Barhocker der fünfziger Jahre mit knallroter Sitzfläche. Und seine hellblonden, kurzen Haare waren in der Menge an Gästen von Weitem zu erkennen. Er war groß, sportlich und Center seines Footballteams an der Georgetown University, die ihren Namen dem Sitz im noblen Washingtoner Stadtteil Georgetown verdankte. Eigentlich sollte er vormittags im Hörsaal der Universität sitzen und den Vorträgen seiner Professoren lauschen. Doch wie so oft zog er es vor, mit seinen beiden engsten Kommilitonen Patrick und Abel, die wie er siebzehn waren, in der dem Universitätsgelände nahe gelegenen Bar Marie Inn abzuhängen. Das Marie Inn war wegen der umfangreichen Frühstückskarte sowie der Möglichkeit, Billard und Darts zu spielen, beliebt bei den Studenten und vielfach schon vormittags gut besucht.
Abel, von kleiner, zierlicher Statur, entstammte einer reichen jüdischen Familie, die über Generationen im Bankengeschäft ein Vermögen verdient hatte. Trotz strengen jüdischen Glaubens seiner Familie vermied er es, tagsüber die Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, zu tragen. Er hatte die feste Überzeugung, seine Chancen beim anderen Geschlecht würden sich hierdurch mindern. So saß er, mit dünnem, schwarzem Haar und seiner zu groß geratenen Nickelbrille auf der schlanken Nase, ebenfalls auf einem Hocker rechts neben Marc. Er musterte seinen Freund von der Seite.
»Hey, wenn du so weiter trinkst, erlebst du das Mittagsläuten nicht mehr!« Dabei tippte Abel auf das halbvolle Glas Whiskey.
»Kennst du den Unterschied zwischen arm und reich?«, entgegnete Marc. Ohne auf die Antwort seines Freundes zu warten, fuhr Marc fort: »Arme stehen um diese Zeit an der öffentlichen Suppenküche an oder liegen noch benommen vom billigen Fusel der Nacht unter einer Brücke. Ohne Chance, was zu ändern. Reiche dagegen«, er grinste, »Reiche haben das Privileg eines vollgefressenen Magens und können sich schon tagsüber mit Drinks zuschütten. Ich kann doch nichts dafür, dazu auserwählt zu sein – oder?« Er hob sein Glas und trank einen kräftigen Schluck.
»Wenn du meinst, aber wolltest du nicht heute Nachmittag zum Training auf dem Campus erscheinen?« Abel wusste zu gut, dass Marc ganz und gar in seinem Sport aufging. Seine Qualität als Center des Football Teams war auch der Grund, warum der Principal der Georgetown University Marc viel durchgehen ließ. Denn als Student zählte Marc nicht gerade zur Elite – seine Noten waren meist mangelhaft.
In Marcs Kopf drehte sich alles. Der Alkohol seiner zu schnell getrunkenen fünf Whiskeys bahnte sich den Weg ins Blut und von dort aus ins Gehirn. »Du hast recht, lass uns ne Runde Billard spielen und dann an die frische Luft.«
Nun drehte sich auch Patrick zu den beiden, der links von Marc saß, während er dem Gespräch der Freunde am Rande lauschte. Seit sie an der Bar Platz genommen hatten, war er einzig auf eine schöne Brünette, die an einem der Tische gegenüber mit ihrer Freundin saß, fixiert, die wiederum versuchte, das dämliche Grinsen Patricks zu ignorieren. »Los, komm«, seufzte Patrick, zupfte Marc am Ärmel und machte Anstalten, ihn mit in Richtung Hinterzimmer zu den Billardtischen zu bewegen. So rutschten die Freunde allesamt gelangweilt von ihren Barhockern und sichtlich wankend folgte Marc den beiden.
Als sie am Tisch der brünetten Schönheit vorbeikamen, verlangsamte Patrick seinen Gang, zupfte aus einer Laune heraus am linken Ohrläppchen des Mädchens und beugte sich zu ihr: »Heute Abend um acht hier ein Date?«
Das Mädchen sah ihn böse an, stieß seine Hand von sich und zischte: »Blödmann, verpiss dich.«
Lachend, der erteilten Abfuhr wegen, gingen sie weiter zum Hinterzimmer. Dieses war durch eine schwenkbare Holztür mit gläsern milchigem Bullauge vom Rest der Bar getrennt. Ein strenges Rauchverbot in den Bars schrieb separate Bereiche vor. So hatte der Besitzer den hinteren Raum für Raucher eingerichtet. Im Vergleich zum vorderen, im Stil der Fünfziger möblierten Barbereich, erweckte das Spielzimmer einen relativ heruntergekommen Eindruck. Eine Menge junger Leute saßen plaudernd an Bistrotischen oder standen, sich am Bier festhaltend. Schwaden gelben Zigarettendunstes durchzogen den Raum und vermischten sich mit Gerüchen aus Alkohol und gebratenem Speck. Gerade war ein Billardtisch