Verschwiegene Wasser. Stephan Hähnel

Verschwiegene Wasser - Stephan Hähnel


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die integrierte Kamera auf Rudenko. Unbeobachtet drückte er eine Taste. Schweigend hielt er dann seinen Rucksack fest, als könnte der ihn beschützen.

      Sorgfältig kontrollierte Mathias Klausen die Spreeschnuppe, einen betagten Ausflugsdampfer, der jede Saison fünfmal täglich durch das Berliner Stadtzentrum fuhr, auf Schäden. In der Nacht hatte eine Gewitterfront ihre schlechte Laune über dem Historischen Hafen in Berlin entladen. Es war ein beeindruckend leidenschaftliches Sommergewitter gewesen, das vom Wetterdienst, verbunden mit einer Katastrophenwarnung, angekündigt worden war. Letztere hatte sich jedoch als unnötig erwiesen. Das Gewitter hatte respektabel gewütet, war aber durchaus typisch für einen heißen Sommer gewesen. Anschließend hatte sich die Gewitterfront verzogen, und eine klare Vollmondnacht hatte dafür gesorgt, dass Klausen bis zum Morgengrauen unruhig geschlafen hatte.

      Klausen entdeckte an der Spreeschnuppe keinen Schaden, der ihm Sorgen bereiten musste. Angewehter Dreck lag auf den Planken, Blätter, Bonbonpapier, die Reste einer Zeitung. Den Müll stopfte er in eine Tüte. Ein paar Eimer Wasser würden genügen, um das alte Mädchen wieder strahlen zu lassen, stellte er beruhigt fest. Solange die Algenblüte nicht begonnen hatte, nutzte er das Wasser der Spree für die Reinigung des Boots. Aus der Nische neben dem Führerhaus holte Klausen einen in die Jahre gekommenen Schrubber, dessen Borsten abgeknabbert aussahen. »Der ist noch gut«, pflegte er zu sagen, wenn ihn jemand auf das mitleiderregende Gerät ansprach. Verwundert registrierte er, dass der Blecheimer nicht am üblichen Platz stand. Irritiert schaute er sich um.

      Die Luft am Märkischen Ufer war klar und belebend. Kapitän Klausen atmete sie ein, als gelte es, davon einen Vorrat anzulegen. Dann begann er mit der Suche nach dem verbeulten Unikat. Es versprach, ein sonniger Tag zu werden. Das Gefühl, das er beim Einatmen der unverbrauchten Luft verspürte, glich jenem, das er als Kind geliebt hatte, wenn er nach dem Baden in ein frischbezogenes Bett gekrochen war.

      Eine Viertelstunde blieb, bis die ersten Gäste an Bord kommen würden. Auch heute würde er auf der beliebten Spreeroute historisches Fast Food servieren: Wann wurde jenes Gebäude errichtet? Welcher Epoche ließ es sich zuordnen? Wie hieß der Architekt? Zur Erheiterung der Passagiere pflegte er passende Anekdoten in seine Ausführungen einzustreuen. Tag für Tag erzählte er die gleichen Witze, sorgte mit doppeldeutigen Anspielungen für Stimmung und erntete Applaus, wenn er in Berliner Mundart Gedichte zum Besten gab.

       Ick sitze hier und esse Klops.

       Uff eenmal kloppt’s.

       Ick kieke, staune, wundre mir,

       uff eenmal jeht se uff, die Tür.

      Vor sieben Jahren hatte Klausen seine Tätigkeit als Professor für Biochemie an den Nagel gehängt. Nach einem vermeintlichen Burn-out vollzog er eine Kehrtwendung im Leben. Midlife-Crisis, behaupteten die einen, Spinnerei, die anderen. Der akademischen Lebensweise entsagte er und entschied sich, fortan ein genügsames Dasein zu fristen. »Ohne mich!«, hatte seine Frau erklärt. Seinen Beziehungsstatus umschrieb er seither mit »glücklich geschieden«. Sieben Jahre war es her, da hatte er das Diktat selbstauferlegter Verpflichtungen rigoros gestrichen. Aus einem Getriebenen war ein Sich-treiben-Lassender geworden, wenn auch nicht freiwillig.

      Den Zuschlag für die Anfang der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts gebaute Spreeschnuppe hatte er bei einer Zwangsversteigerung erhalten. Marode achtzehn Meter Länge boten Platz für dreißig Passagiere. Einen Winter lang hatte es der Ausdauer eines Idealisten bedurft, um das in die Jahre gekommene Schiff instand zu setzen. Seitdem nannte er sich Kapitän eines Ausflugdampfers und vermittelte Unwissenden Stadtgeschichte.

      Obwohl Klausen gründlich in jeden Winkel der Spreeschnuppe schaute, blieb der Eimer verschwunden. Stattdessen entdeckte er auf dem Vorderdeck ein Freundschaftsband. Der Tradition nach musste der Hersteller des Schmuckstücks dem Beschenkten das Band eigenhändig umbinden, woraufhin sich dieser etwas wünschen durfte. Wenn es eines Tages von allein abfiele, erfüllte sich der Wunsch, so hatte es ihm eine seiner Studentinnen erklärt. Vorausgesetzt, man trug es Tag und Nacht. Das aus Wolle gewebte Band wirkte abgetragen, war aber nicht zerrissen. Ein Knoten hielt es zusammen. Klausen überlegte, ob unter den gestrigen Passagieren jemand gewesen war, der derartigen Zierrat getragen hatte. Nach einer Weile schloss er das aus. Der Besucherandrang am Vortag war übersichtlich gewesen. Bei den meisten Fahrten hatte die Anzahl betagter Interessierter kaum die Kosten der Tour eingebracht. Glücklicherweise konnte er die letzte Runde als voll besetzt verbuchen. Eine illustere Gesellschaft mit dem Namen »Therapiegruppe – Bedingungsloser Frohsinn« enterte das Schiff regelrecht und hisste den Wimpel ihrer Geselligkeit am Bug. Anfänglich empfand Klausen den Namen dieses Vereins eher als Bedrohung als ein Versprechen substanzieller Lebensqualität. Aber es war eine lustige Truppe, bewaffnet mit einem Koffer, der eine Flasche Jägermeister sowie passende Gläser enthielt. Die Feierfreudigen hatten allesamt den höheren Semestern angehört. Sie hatten zwar die gleichen T-Shirts getragen, aber altersbedingt kam keiner von ihnen als Besitzer des gefundenen Modeschmucks infrage.

      Der Kapitän der Spreeschnuppe steckte das Freundschaftsband in die Hosentasche. Er würde es zu den anderen Fundstücken in die Kiste legen, in der er Erinnerungen aufbewahrte, die niemand zurückverlangte. Immer noch auf der Suche nach dem Eimer, schaute er sich um und entdeckte das Ende des Seils, mit dem der über Bord geworfene Kübel eingeholt wurde. Es war an der Reling befestigt. Verwundert löste er den Knoten, der eindeutig nicht von einem Fachmann stammte. Auch war das Seil neu. Er konnte sich nicht erinnern, es ausgetauscht zu haben. Zehn Minuten blieben noch, um die Reinigung des Vorderdecks zu erledigen, den Ständer mit den Prospekten aufzufüllen und die Kasse bereitzustellen.

      Kopfschüttelnd zog Klausen an dem Seil und spürte einen Widerstand. Der Eimer schien sich irgendwo verhakt zu haben. Vorsichtig gab er nach, zog erneut, ohne jedoch eine Wirkung zu erzielen. Mit der gespannten Leine in der Hand trat er zur Seite und wiederholte den Vorgang. Klausen wollte den Eimer nicht verlieren. Er hatte ihn zusammen mit dem alten Schiff erworben. Ein solider Blechkübel, einer von jener dickwandigen Sorte, die heute niemand mehr produzierte. Er zog kräftiger, diesmal mit Erfolg. Etwas Schweres schwebte unter dem Schiffsrumpf. Der Kapitän der Spreeschnuppe schaute besorgt über die Reling und holte die Leine langsam ein. Aus der Tiefe bewegte sich ein heller Fleck Richtung Wasseroberfläche, und je näher er kam, desto deutlicher waren die Konturen eines Gesichts zu erkennen.

       ° ° °

      Die Polizei hatte den Bereich am Märkischen Ufer weiträumig abgesperrt und Stellwände errichtet, um die Schaulustigen fernzuhalten. Einzelne Gaffer hielten dennoch ihre Handys in die Höhe und fotografierten. Einem Fotografen der Boulevardpresse war es sogar gelungen – vermutlich gegen ein kleines Entgelt –, sich Zutritt zu einem der Häuser am Ufer zu verschaffen. Seelenruhig stand er am Fenster im oberen Stockwerk und machte Aufnahmen.

      Taucher hatten die unbekleidete Leiche geborgen und auf das Deck der Spreeschnuppe gelegt. Zweifelsfrei handelte es sich um eine junge Frau. Die Spurensicherung hatte die Leine gelöst, die um den Körper geschnürt gewesen war. Zusammen mit dem betagten Schöpfeimer und einem Feldstein, der zur Beschwerung in den Eimer gepresst worden war, wurde die Tote zur Untersuchung ins Labor gebracht.

      Kriminalhauptkommissar Hans Morgenstern wartete am Uferweg und verfolgte die Arbeiten. Gerd Füllgrabe, Chef der Spurensicherung und praktizierender Pedant, untersuchte das Seil. Er schien fündig geworden zu sein. Ein kurzer Fingerzeig, und der Polizeifotograf machte von der Entdeckung Bilder. Beide waren ein eingeschworenes Team, das seit ewigen Zeiten zusammenarbeitete. Selbst von der Straße aus konnte Morgenstern erkennen, dass die Leiche mit hoher Wahrscheinlichkeit nur eine Nacht im Wasser gelegen hatte. Genaueres würde Sonja Bubka, die Rechtsmedizinerin, herausfinden.

      Erneut schaute Morgenstern zu dem Paparazzo, der geschickt das Objektiv der Kamera gegen ein anderes austauschte und seinen verständnislosen Blick mit einem Feixen quittierte. Es ärgerte Morgenstern, mit welcher Selbstverständlichkeit sich der Kerl über ihre Bemühungen, die Würde des Opfers zu schützen, hinwegsetzte. Kopfschüttelnd richtete


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