Erdenkinder. Günter Neuwirth

Erdenkinder - Günter Neuwirth


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und ihn lieber heute als morgen entmündigen und in eine geschlossene Anstalt sperren lassen wollten, eine Dorfgemeinschaft, die sich von ihrem ehemals geachteten, weil tüchtigen Großbauern in Zorn und Unverständnis abgewendet hatte. Der Lehner Pepi ist im Alter durchgedreht, jetzt sind die Narrischen auf seinem Grundstück, jetzt haben wir diese Bande von Strauchdieben am Hals, du bist schuld, du bist schuld, du bist immer wieder schuld, Pepi, sag, schämst du dich nicht auf deine alten Tag!

      Er kannte seine Komposthaufen besser als er jeden Menschen kennen konnte und wollte, er wusste immer genau, wie und wann ein Haufen anzulegen war, welche Zweige, Blätter, Gräser wo und wie aufzuhäufen waren, welche Mengen Tierdung einzuarbeiten waren, wie lange die Haufen reifen mussten, wann der richtige Zeitpunkt war, sie zu öffnen. In ein stummes Gebet versunken, verharrte er fast bis zu den Knien im Kompost steckend, ein Gebet nicht zu dem eitlen Popanz von Gott, den ihm die Großmutter in das Gemüt gedrillt und der Pfarrer mit leeren Floskeln in das Gehirn geleiert hatte, sondern ein Gebet in das helle Licht dieses anhebenden Frühsommertages.

      Dann packte er die Mistgabel und mit spielerischer Leichtigkeit hob er die obere Schicht des Haufens ab, grub sich in den warmen, duftenden Kern des Haufens. Käfer und Ameisen, Pilze und Würmer, der Kreislauf des Lebendigen, mikroskopisch kleine Lebewesen, die er nicht sah, aber deren Anwesenheit er spürte, sie alle umfingen ihn, begrüßten ihn wie einen guten, lang erwarteten Freund. Meister Josef spürte nicht die alten Glieder, den schmerzenden Rücken, immer wenn er einen Haufen öffnete, war er wie in Trance, war er in seinem Element, hatte er seinen Platz im Kosmos gefunden. Er arbeitete hart, Schweiß perlte an seiner Stirn und er summte still vor sich hin. Ja, der Zeitpunkt war genau richtig, die dunkle Erde roch gut, feiner Humus, die Grundlage für bestes Gemüse, für ein gesundes Leben bis ins hohe Alter.

      Nach einer halben Stunde trat Meister Josef einen Schritt zurück, blickte auf die mittlerweile vollständig geöffnete Kompostmiete und wischte den Schweiß in den Ärmel seines Hemdes. Er war zufrieden. Gute Arbeit, jetzt würden er und sein Freund Ernst, der im Lauf des Vormittages mit dem Werkzeug kommen würde, den Humus aufschaufeln, sieben und zu den Beeten bringen können. Danach würde er sich um alles Weitere kümmern. Josef Lehner öffnete die Feldflasche mit dem kalten Kräutertee und nahm einen kräftigen Schluck.

      Er sah den Ort genau vor sich. Eine offene Waldlichtung, fast mannshohes Kraut, schwirrende Bienen, ein bunter Schmetterling zwischen den durch die Baumkronen brechenden Sonnenstrahlen, ein Duft von Sommer und feuchtem Lehmboden. Gelbe Blüten. Und er hatte alles geschluckt. Meister Josef fiel auf die Knie und griff an sein Herz. Der Trank war so stark. Wer konnte solch Elixier zubereiten? Digitalis grandiflora. Fingerhut. Die Wolken zogen über das Firmament, grüne Schäfchen im gelben Himmel. Der Geschmack des Elixiers war so überaus wohltuend, doch das Herz setzte aus. Er hörte seinen Großvater lachen.

      Ich komme, Opa, du hast als einziger mit uns Kindern gelacht, doch nie im Haus, immer nur auf den Feldern oder bei den Obstbäumen, wenn Oma es nicht bemerkte, Opa, ich kann jetzt auch lachen, höre nur, wie ich lache, lache, lache …

      „Das ist, kurz gesagt, eine wasserdichte Prozessdefinition.“

      Er musste urinieren, sich entleeren, schnell. Der Kaffee, der verfluchte Kaffee. Wasser lassen. Dringend.

      Der Mann mit der kahlen Stirn und dem millimeterkurz geschnittenen Haar zupfte an seiner Krawatte, der oberste Hemdknopf war geöffnet, die in feines Tuch gehüllten Beine waren leger übereinander geworfen. Er wischte mit der rechten Hand scheinbar spielerisch über die vor ihm auf dem Konferenztisch liegenden farbig bedruckten Papiere, als ob es in diesem hygienisch gereinigten, vollständig klimatisierten Hightech-Raum noch irgendein Staubkörnchen zu beseitigen gäbe.

      „Das ist ja alles schön und gut, aber …“

      Eine bedeutungsschwere Pause im Diskurs der vier Männer öffnete sich, legte sich wie eine dunkle Aschenwolke in die Atmosphäre, lähmend, bedrückend.

      Wo findest du noch einen Haken, du aufgeblasener Popanz, du Quertreiber, du Kasperl in Managementklamotten, geisterte es durch Robert Wiesers Kopf. Womit willst du mich nach drei Stunden mühsamer Verhandlung, am Rande einer Koffeinvergiftung schrammend, noch aufhalten? Ich will hier raus, fort von dieser Bande ignoranter Blödiane mit goldenen Kugelschreibern und grafiklastigen Besprechungsunterlagen.

      „Aber was?“, fragte Robert schließlich, trat von der Flipchart weg und ließ sich auf seinen Sitzplatz sinken.

      Der Mann mit der Glatze, Magister der Betriebswirtschaftslehre und seit fünf Jahren Supplymanager in diesem halbstaatlichen Energieversorgungsunternehmen, zu dessen Lieferanten Roberts Firma zählen wollte, blätterte scheinbar zielgerichtet in den Unterlagen und war doch ohne jede Orientierung. Oder war es Robert, der die Orientierung verloren hatte? War es Robert, der nicht mehr wusste, was ihn überhaupt hierher geführt hatte? Mit wem er hier überhaupt sprach? Nach all den Jahren in der Firma, nach all den Meetings und Konferenzen, Präsentationen und Projektierungsgesprächen konnte er die einzelnen Gesichter nicht mehr voneinander unterscheiden. Er war ausgelaugt, am Ende, völlig kraftlos und ohne jeglichen Antrieb. Und er musste auf das Klo. Dringend.

      „Ja, das ist es!“, rief der Mann mit Glatze endlich aus. „Ich glaube über den Field Support haben wir noch nicht detailliert genug gesprochen. Da sind noch Punkte offen. Da müssen wir noch nachhaken.“

      Nachhaken? Will er wirklich nachhaken? Der übergewichtige Volltrottel will da tatsächlich noch einmal nachhaken. Ich werde dir die Krawatte abhacken und nicht in den Prozessdefinitionen nachhaken. Die Krawatte, oder etwas anderes. Dieses feiste Schwein.

      „Sehr gern, Herr Magister Reicher! Wenn Sie da noch offene Punkte sehen, können wir diese jederzeit thematisieren und alle Fragen eingehend diskutieren. Dafür sind wir ja heute hier zusammengekommen.“

      Ich bin ein Profi, das sagen alle, ich bin seit fünfzehn Jahren ein bewährter Projektmanager, ich habe schon in Konferenzen gesessen, da bist du Schlappschwanz noch auf der Uni den Professoren in den Arsch gekrochen. Okay, in letzter Zeit habe ich ein kleines Motivationsproblem und leide an Schlafstörungen, aber das binde ich dir sicherlich niemals auf die Nase, das sage ich nicht mal meinen Kollegen und schon gar nicht meinem Vorgesetzten. Der im Übrigen drei Jahre jünger ist als ich. Der im Übrigen vor einem halben Jahr den Job als Abteilungsleiter übernommen hat, den ich mir wirklich mehr als verdient habe. Der im Übrigen ein schleimiger Mistkerl ist.

      Es klopfte an die Tür des Konferenzsaals, die Tür ging auf und der Direktor des Kraftwerkes Dürnfeld trat herein. Die vier Männer im Konferenzraum erhoben sich unwillkürlich.

      „Nun, meine Herren, sind Sie mit der Besprechung gut voran gekommen?“, fragte Diplomingenieur Georg Haunold in seinem charakteristischen Tonfall von Höflichkeit, Bestimmtheit und Eloquenz.

      Es gab einen speziellen Typus von Männern, den Robert Wieser respektieren konnte und musste, und der Direktor des Kraftwerkes Georg Haunold war einer von diesen. Das war ein Mann, der mit wenigen Gesten Vertrauen erweckte und mit ein paar Worten Kompetenz vermittelte.

      „Ja, wir liegen gut in der Zeit“, sagte Magister Reicher dienstbeflissen.

      „Das ist prima. Wie angekündigt werde ich mich nach dem Essen an der Besprechung beteiligen, jetzt aber meine Herren, bitte ich Sie, auf die Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten nach zwölf, der Cateringservice hat geliefert, also schlage ich vor, wir kümmern uns nun um das leibliche Wohl und nehmen einen Happen zu uns.“

      Zustimmendes Gemurmel, bejahendes Kopfnicken, rückende Stühle aus eloxiertem Aluminium. Endlich freie Bahn auf die Toilette. Robert erhob sich und versuchte, nicht zu hektisch den Raum zu verlassen. Plötzlich trat jemand in seinen Tunnelblick.

      „Herr Ingenieur Wieser, jetzt mal unter uns, Sie haben sich ja ganz schön ins Zeug gelegt, aber …“

      Robert hörte nicht mehr, was der fette Ignorant sagte, er sah nur noch sich öffnende und schließende fleischige Lippen, roch teures Rasierwasser, verspürte den unbändigen Wunsch, diesem unsympathischen Widerling das Knie mit voller


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