Erdenkinder. Günter Neuwirth

Erdenkinder - Günter Neuwirth


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machen, der kennt sich aus mit solchen Sachen.“

      Meinrad machte ein paar Schritte, ließ die Arme und den Kopf kreisen.

      „Nix gebrochen, nur ein paar Schrammen. Da haben wir verdammtes Glück gehabt. Das nächste Mal sollten Sie aber beim Autofahren schon nach vorne schauen und keine Schlingen fahren“, sagte Meinrad mit anklagendem Blick.

      „Du stehst noch unter Schock, du musst jetzt dringend zu einem Arzt“, stellte Robert kategorisch fest und drückte endlich die Ruftaste seines Mobiltelefons.

      Meinrad nickte grüßend und marschierte mit raumgreifenden Schritten los.

      „Halt! Warte! So bleib doch stehen!“, rief Robert, doch der junge Mann blieb nicht stehen, also trennte er die eben aufgebaute Telefonverbindung und eilte hinterher. „Wohin gehst du? Du bist verletzt!“

      Meinrad blieb abrupt stehen und drehte sich um.

      „Sie wiederholen sich aber schon öfter, nicht wahr?“

      Robert war verstört. So hatte er sich seinen ersten Verkehrsunfall mit Personenschaden nicht vorgestellt. Erst jetzt bemerkte er die seltsame Kleidung des Jugendlichen. War der Kerl ein Verrückter? Ein aus einer Irrenanstalt oder einem Jugendgefängnis entlaufener Insasse? Hatte er durch den Sturz einen Gehirnschaden erlitten?

      „Ich habe eine Idee“, sprudelte Meinrad hervor, „weil beim Gehen spüre ich doch das angeschlagene Knie. Was halten Sie davon, wenn Sie mich mit Ihrem Auto nach Hause fahren? Gebhardt ist dort, er wird mich verarzten. Ich bin schon seit mindestens einem Jahr nicht mehr in einem Auto gefahren. Und Ihres schaut ja auch total toll aus. Was ist das für eine Marke?“

      Roberts Gaumen fühlte sich trocken an, seine Lippen schienen aus Löschpapier zu sein. Konnte es Jugendliche geben, die einen Audi nicht erkannten, wenn er vor ihnen stand? Robert wischte alle Bedenken fort, er musste jetzt richtig handeln, er musste für seinen Fahrfehler und für den Unfall die Verantwortung übernehmen.

      „Gut, ich bringe dich zu deinem Bekannten, zu diesem Arzt. Steig ein.“

      Der silbergraue Audi, ein für den dynamischen Spurwechsel auf deutschen Autobahnen gebautes Fahrzeug, holperte im Kriechtempo über den Feldweg. Wenn da nur nicht die Bodenplatte ein paar Schrammen oder Dellen davonträgt, ging es Robert durch den Kopf.

      „Müssen wir diesen Weg zu deinem Dorf nehmen? Warum nehmen wir nicht die richtige Straße? Soll das eine Abkürzung sein, oder was?“

      Meinrad blickte Robert von der Seite an.

      „Aber das ist die richtige Straße. Es gibt nur diese.“

      Robert warf die Augenbrauen in Wellen.

      „Das ist ein Traktorweg, keine Straße. Was für ein Dorf soll das sein?“

      Sie bogen um eine Kurve und Roberts Blick fiel auf ein weitläufiges Areal, bestehend aus einer zu einem Campingplatz umfunktionierten Wiese, einem Obstbaumhain, in dem auch einige Zelte standen und einem lichten Waldstück, an dessen Rand sich eine Zahl von seltsamen Holzhütten befand.

      „Das ist Hoffnung, das Dorf, in dem ich seit drei Jahren wohne. Da vorn kannst du anhalten. Du kannst mit diesem Auto nicht bis in das Dorf rein.“

      „Hoffnung? Das Dorf heißt Hoffnung?“

      „Ja, Hoffnung, so wie hoffen mit ung, halt ein Hauptwort. Ich weiß gar nicht, wer von den Alten sich das ausgedacht hat, aber der Name hält sich hartnäckig.“

      Robert hielt den Wagen an und stieg langsam aus. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ein wilder Campingplatz und ein Jurtendorf, das war also diese Ökokommune, von der seine Kollegen in der Firmencafeteria gesprochen hatten, als er ihnen von seinem Auftrag berichtet hatte, im Kraftwerk Dürnfeld einen Workshop abzuhalten. Offenbar hatte es über dieses Dorf einmal einen Bericht im Fernsehen gegeben, den Robert, wie so vieles, was im Fernsehen lief, aus mangelndem Interesse an den immer gleichen lästigen Bildern nicht mitbekommen hatte. Einige Leute kamen auf den Wagen zu. Robert fühlte sich mit einem Mal restlos deplatziert, vollkommen overdressed und von einer Reihe missliebiger Blicke umlagert. Wallende Rauschebärte, wirres Hexenhaar, Kleidung, die aussah, als wäre sie beim Flohmarkt in einer maoistischen Kolchose übrig geblieben, und er stand da mitten im noch regennassen Gras in einem Businessanzug.

      „Meinrad! Was ist dir passiert?“, rief eine Frau mittleren Alters, lief auf den Jugendlichen zu, nahm seinen Kopf in ihre Hände und inspizierte die Schramme im Gesicht.

      „Kein Stress, Mama, das ist nur ein Kratzer. Aber vielleicht sollte Gebhardt mal mein Knie anschauen.“

      Die rund zehn Personen umringten Meinrad und starrten auf das zerschrammte Knie.

      „Kann man dich nicht einmal eine Stunde unbeaufsichtigt lassen?“, keifte Gerlinde Riemenschmied ihren Sohn an. „Wo hast du dich schon wieder herumgetrieben? Die Wunden müssen gesäubert werden, und auf dem Knie brauchst du einen Verband. Komm mit, ich gebe dir Arnikatropfen.“ Die Frau mit den hellwachen blauen Augen schaute Robert über die Motorhaube des Autos hinweg an. Ihr Blick war voller Wärme.

      „Vielen Dank, dass Sie meinen Sohn hergebracht haben, das war sehr freundlich von Ihnen. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Tee vielleicht oder Gemüsesuppe?“

      Robert war irritiert, weil plötzlich alle zehn Personen der Gruppe ihn freundlich anlächelten.

      „Äh, nein, danke, ich meine …“

      „Na, kommen Sie schon, eine Tasse Tee, frisch aufgebrüht, und ein paar Dinkelkekse. Oder haben Sie es eilig?“

      „Also, eilig nicht, aber ich wollte Ihren Sohn zu einem Arzt bringen. Es ist so, dass ich …“

      „Apropos Arzt“, unterbrach Gerlinde Robert. „Da kommt unser Arzt schon.“

      Robert folgte den Blicken der Einheimischen. Ein langer, dürrer Mann mit weitgehend grauem Haar, das er zu einem langen Zopf geflochten trug, und eine junge Frau eilten auf sie zu. Roberts Mund klappte für einen Moment auf, er vergaß zu atmen, er vergaß die Zeit und den Raum, die unüberbrückbaren Hürden und Hindernisse, die den Menschen im Leben immerzu entgegen stehen. Sein Puls rumorte. Diese junge Frau, konnte sie wahrhaftig da auf ihn zukommen, setzte sie wirklich ihre Schritte so, wie es den Augenschein hatte, irrte er sich, träumte er mit wachem Auge, oder war sie Wirklichkeit? Robert gaffte sprachlos. Diese junge Frau ging nicht, sie schwebte, in geschmeidigen Bewegungen setzte sie ihre Schritte barfuß in das Gras. Der Mann, den alle Gebhardt nannten, sah sich die Wunden von Meinrad an, nickte, beruhigte alle, das seien nur Kratzer, man müsse nur achten, dass die Wunden sich nicht entzündeten, er und Angelika würden sich um alles kümmern.

      Angelika.

      Der Name echote in Roberts Gehör wie der Lockruf einer Quellnymphe in einer im Wald verborgenen Bachklause. Sie war also kein Traumbild, keine Vision seiner verwirrten und seit Jahren ungestillten Sehnsüchte, sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie war nicht attraktiv, nein, ein triviales Wort wie attraktiv bemaß die Erscheinung dieser Frau gar nicht, sie war ein Wunder.

      „Also, kommen Sie doch. Ich schenke Ihnen Tee ein. Machen Sie mir die Freude, seien Sie unser Gast“, sagte Gerlinde Riemenschmied und hakte sich bei Robert ein. Er leistete keinen Widerstand mehr. Er folgte dem merkwürdigen Arzt, dem Jugendlichen und Angelika. Sie traten in eine der außen mit Lehm verputzten Jurten. Der Raum war behaglich, eine aus Steinen gemauerte Feuerstelle, ein altertümlicher Geschirrschrank, eine große Küchentruhe, an der Decke hingen in dichten Trauben Bündel getrockneter Kräuter, ein paar Regale mit sich über und über türmenden Bücherstapeln, ein Teppich in der Mitte des Dielenbodens, ein breiter Tisch und eine Schlafnische im hinteren Teil der Jurte.

      „Meinrad, du setzt dich da her. Angelika, bringst du den Zwetschkenbrand“, sagte der Arzt, blickte sodann Robert an und wies auf den Teppich. „Sie können hier Platz nehmen. Ich habe Rossminzetee. Gerlinde, du kannst für uns alle etwas einschenken.“


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