Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
wir sind maronitische Christen, aber ich mache mir gar nicht viel aus der Religion. Schau doch, Nili, was bei uns zu Hause los ist! Moslems morden Juden und Christen, diese wiederum erschießen Juden und Moslems, und ihr Juden tötet Christliche und muslimische Palästinenser! Das alles im sogenannten Heiligen Land und im ehrwürdigen Namen Allahs, Jesus und weiß der Teufel, wie euer jüdischer Gott sich nennt!“
„Du hast wohl in diesem Punkt nicht ganz unrecht, Habiba, auch ich bin deswegen seit jeher konfessionslos.“ Nach einer Pause setzt Nili nach: „Was glaubst du, warum hat Matti dir eine tödliche Dosis Kokain für Ralph zugesteckt? Kann es ein Irrtum gewesen sein oder glaubst du, er hat es mit Absicht getan?“
Habiba antwortet nicht gleich. „Er darf niemals erfahren, dass ich das überhaupt gesagt habe, er würde mich von dem Russen erschießen lassen!“
„Du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen, Habiba, die gesamte Bande verschwindet mit Sicherheit für viele Jahre hinter Gittern.“
„Ach, Nili, du ahnst ja nicht, wie dieses ganze Spinnenwerk organsiert ist. Da sind noch so viele andere, die ich auch nicht kenne, aber ich weiß ganz genau, dass es sie gibt!“
Es ist wohl wie die Hydra der griechischen Mythologie, denkt Nili im Stillen. Schlägst du dem Ungeheuer einen Kopf ab, wachsen ihm drei neue nach! Da schafft es heute auch kein Herakles mehr, sie zu besiegen.
„Also Irrtum oder Absicht?“
„Von Anfang an, als ich zur Bande stieß, war der Matti scharf auf mich. Er versuchte einige Male, mir an die Wäsche zu gehen. Ich möchte diesen widerlichen Kerl nicht, habe mich auch dagegen gewehrt, aber er war nun mal der Boss und ich hatte keine andere Möglichkeit, als mich in seiner Gang einzuordnen, weil ich doch hier illegal war. Er hat vielleicht mitgekriegt, dass ich etwas mit Ralph angefangen hatte, und war eifersüchtig, kann sein. Als ich dann Nachschub holte, gab er mir jenes Briefchen mit dem ausdrücklichen Hinweis, er sei nur für Ralph bestimmt. ‚Für niemand anderen, verstehst du, Habiba?‘, hat er betont. Also ja, ich muss deshalb glauben, dass er es mit Absicht getan hat!“
„Wärst du bereit, dies auch vor Gericht auszusagen?“, fragt Nili mit einem vielsagenden Blick in die Kamera in der Ecke des Verhörraumes, die diese Vernehmung unauffällig in den Monitorraum überträgt, wo sie aufgezeichnet wird.
Habiba ist unsicher und fragt: „Wie könnt ihr mich denn schützen und was passiert jetzt mit mir? Werde ich angeklagt und verurteilt und muss ins Gefängnis? Ich bin doch unschuldig an Ralphs Tod! Oder werde ich einfach abgeschoben – was wird aus mir?“
„Ich werde für dich bei unserem Oberstaatsanwalt ein gutes Wort einlegen, Habiba. Wenn du bereit bist, all dies, was du mir jetzt erzählt hast, bei der Gerichtsverhandlung gegenüber dem Richter zu wiederholen, bin ich sicher, dass dich ein mildes Urteil erwartet. Du solltest aber auf jedem Fall sofort einen Asylantrag stellen, dann gibt es vielleicht für dich eine Chance auf Duldung und Bleiberecht.“
„Beseder – in Ordnung, Nili, ich vertraue dir, werde aber nur dann etwas erzählen, wenn du dabei bist und dem Richter alles genau übersetzt. Kannst du mir das versprechen?“
„Ich gebe dir mein Wort, sei beruhigt. Aber noch etwas möchte ich gern von dir erfahren: Wie bist du überhaupt hierhergekommen?“
„Nach dem Tod meiner Eltern wohnte ich zunächst bei meiner Tante, die ist Libanesin. Dann zogen wir nach Beirut und blieben einige Wochen bei ihren Angehörigen. Plötzlich ging der Krieg auch dort wieder los. Wie ich schon sagte, Christen schießen auf Moslems und diese zurück auf die Christen. Einer meiner Cousins schlug vor, nach Europa zu fliehen, damit wir endlich aus dieser Scheiße herauskommen. Er bezahlte achttausend Euro an eine Schlepperbande, die uns in einem verrosteten Kahn über das Mittelmeer in fast drei Wochen Fahrt bei Sturm, Hunger und Durst hinüber nach Spanien brachte. Es grenzt an ein Wunder, dass das marode Schiff nicht untergegangen ist. Als die spanische Guardia Civil unser Boot aufbrachte, sprangen einige Flüchtlinge über Bord, darunter auch mein Vetter, der dabei ertrank. Als wir an Land kamen, wurden wir eingesperrt. Im Camp lernte ich einen algerischen Typen namens Jussuf kennen. Der hatte wohl Verbindung zu Mattis Bande, denn er organsierte meine Flucht aus dem Lager sowie meine Weiterreise in einem Früchtetransport-Lastzug von Murcia bis nach Hamburg. Ich war zusammen mit einer Kokainsendung hinter einigen Apfelsinenkisten versteckt. Der eine Russe, Jiri, holte mich am Hamburger Großmarkt ab und brachte mich nach Kiel. Matti nahm mir sofort meinen Dschawatz safar – meinen palästinensischen Reisepass – weg. Man brachte mir einige Worte auf Deutsch bei, dann wurde ich mit Mustafa losgeschickt und musste Drogenkunden unter den Jugendlichen an den Schulen suchen und sie – wie auch immer – zum Kauf animieren. Später begann Matti mit der gezielten Suche nach potenziellen Opfern in den Regionalzügen, in denen man gleichzeitig Schüler und Studenten traf. Den Rest kennt ihr ja bereits.“
„Ja, Habiba. Auch deinen Pass haben wir bei der Razzia sichergestellt, daraus erfuhren wir deinen Namen.“
***
Es war eine sehr erschütternde Geschichte, die wir von Habiba zu hören bekamen. Sie hat mich tief berührt.
Auch ihre Aussage habe ich wörtlich ins Deutsche übersetzt, dann konnte sie diese unterzeichnen. Viele Menschen hier beklagen, dass immer mehr Flüchtlinge zu uns nach Europa kommen, wider alle Hindernisse, die man ihnen in den Weg stellt. Wenn diese missbilligenden Wesen nur ein paar Tage lang am eigenen Leib all das fühlen würden, was diese vom Schicksal schwer geschlagenen Menschen in ihrer Heimat erdulden und durchmachen mussten, hätten sie vielleicht ein Quäntchen mehr Verständnis und Mitgefühl für deren hoffnungslose Lage. Uns hier geht es so verdammt gut, aber ich weiß ja, wir können nicht die ganze arme Welt bei uns aufnehmen! Dennoch, eine immer stärker zunehmende Anzahl dieser Verzweifelten und Verfolgten rollt unaufhaltsam auf uns zu! Zu verlieren haben die unglücklichen Habenichtse ja nicht viel mehr als nur noch ihr nacktes Leben!
Wie gelobt, bat ich um ein Gespräch mit Oberstaatsanwalt Harmsen, um für Habiba Massud ein gutes Wort einzulegen. Er versprach, mir einen kurzfristigen Termin anzuberaumen. Schon am folgenden Montag wurde die gesamte Mannschaft unserer Dienststelle zur Staatsanwaltschaft nach Kiel beordert. Kollegen aus den umliegenden Revieren übernahmen während unserer Abwesenheit den Bereitschaftsdienst.
Oberstaatsanwalt Hinrich Harmsen begrüßt alle Anwesenden aus Kiel, darunter Oberkriminalrat Bruno Westermann vom LKA und den Einsatzleiter der 5. Abteilung des SEK – dessen Name stets offiziell verschwiegen und der deshalb unter Kollegen „Kommando-Heini“ genannt wird –, Drogen-Dezernatsleiter Kriminalhauptkommissar Walter Mohr, die Kollegen der Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße, Kriminalhauptkommissar Harald Sierck und seine beiden Mitarbeiter, die Oberkommissare Steffi Hink und Hauke Steffens. Aus Oldenmoor hinzugekommen sind Boie Hansen, Nili Masal, Sascha Breiholz und Willi Seifert.
„Herzlich willkommen, liebe Leute!“ Harms gibt sich jovial. „Zunächst herzlichen Dank an Sie alle und Glückwunsch für die hervorragende Arbeit! Durch die Verzahnung und Koordinierung unserer Einsatzkräfte mit denen von Interpol und der spanischen Guardia Civil gelang ein entscheidender Erfolg in der Bekämpfung des illegalen Drogenschmuggels und Drogenhandels, nicht nur bei uns, sondern in ganz Westeuropa. Nicht zuletzt konnten wir zudem gleichzeitig einen Dealerring hier, unmittelbar vor unserer Tür, zerschlagen! Jeder von Ihnen hat einen erheblichen Anteil an diesem Erfolg, gratuliere! Ich fasse jetzt also die wichtigsten Ergebnisse dieses Einsatzes unserer Soko zusammen:
1 Aufklärung des Einbruchs und Fahrzeugdiebstahls im Autohaus Scholz in Oldenmoor. Überführt werden durch eindeutige Indizien konnten die beiden russischen Staatsbürger Juri Wolkow und Alexei Shirjajev, wobei gegen den Zweitgenannten sogleich ein Verfahren wegen Körperverletzung anhängig ist. Besonderen Dank an Polizeimeister Breiholz, gut gemacht!
2 Aufklärung des zweifachen, heimtückischen und in Gemeinschaft ausgeführten Mordes an der achtzigjährigen Frau Karin Vogt und ihrer dreiundfünfzigjährigen Tochter Regina sowie der Brandlegung an deren Bauernhof. Auch hierfür zeichnen die beiden oben genannten Täter Juri Wolkow und Alexei Shirjajev gemäß den sie eindeutig belastenden Indizien als voll