Im Bann der bitteren Blätter. Manfred Eisner
nicht wahr, Frau Masal? Auch andere private und offizielle Persönlichkeiten unterstützen dieses Vorhaben und haben sich der Bewegung angeschlossen. Professor Traube möchte deswegen, dass ich meine Doktorarbeit zielgerecht auf die Art und Weise ausrichte, wie das Kokain nach der Gewinnung der Cocablätter und deren Verarbeitung in Kolumbien, Bolivien und Perú seinen unsäglichen Weg bis zu uns nimmt. Natürlich gibt es zahlreiche Literaturquellen, die ich zur Recherche heranziehen könnte, aber – und da sind wir uns mit meinem Vater einig – ich möchte keineswegs eine Dissertationsarbeit vorlegen, die lediglich aus Zitaten von Arbeiten anderer Leute besteht und keinerlei eigene Forschungsergebnisse enthält. Ich muss deshalb persönlich und vor Ort Näheres erkunden.“
Nili hat verstanden. „Also werden Sie wohl eine längere Reise unternehmen müssen, um bis an die Quelle des Bösen heranzukommen. Meine Mutter ist in Bolivien aufgewachsen und hat mir einiges darüber erzählt. Aber ich denke, für eine alleinreisende junge Dame dürfte es ziemlich waghalsig sein, sich auf diesen ihr nicht im Geringsten geläufigen und noch dazu sehr obskuren Pfaden zu bewegen. Zudem sind die Leute, die sich in diesem Metier herumtreiben, ganz rüde Machos und nicht gerade zimperlich. Glauben Sie ja nicht daran, dass diese Kerle so einfach begeistert oder bereit sein werden, ihre intimsten Geschäftsgeheimnisse der ersten Person, die sie danach befragt, preiszugeben, auch wenn diese eine so charmante Erscheinung wie die Ihre ist.“
„Darf ich unterbrechen?“, lässt der Oberstaatsanwalt verlauten. „Eben dies ist, was meiner Frau und auch mir die größte Sorge an Kitts Vorhaben bereitet. Deswegen hatte ich gerade an Sie gedacht. Wie wäre es, wenn Sie meine Tochter auf dieser Reise begleiten?“
Nili ist baff. Sie atmet erst einmal tief ein. „Wie haben Sie sich das denn vorgestellt, Herr Oberstaatsanwalt? Bei allem Respekt, selbst wenn ich mich dazu bereit erklärte, ich kann doch hier nicht einfach meine Arbeit liegen lassen, um zwei oder gar drei Monate – denn so lange würde man gewiss benötigen, um genügend Daten und Erkenntnisse zu sammeln – in Südamerika herumzufahren.“
„Brrr, liebe Frau Kriminaloberkommissarin, ziehen Sie mal die Leine und bringen Sie Ihre Pferde zum Stehen!“ Nili sieht Harmsen mit Erstaunen an.
„Lassen Sie mich Ihnen doch bitte erst einmal erklären, wie ich mir das Ganze vorstelle. Darf ich?“ Als Nili nach kurzer Bedenkzeit stumm nickt, setzt Harmsen fort: „Also, angenommen – ich wiederhole ausdrücklich angenommen –, Sie wären überhaupt bereit, meine Tochter auf dieser Erkundungsreise zu begleiten, sähe diese Aktion in etwa folgendermaßen aus:
Erstens, was Sie persönlich betrifft. Folgen Sie unserem Vorschlag zum Überwechseln in das LKA, würden Sie erst einmal im Zweiten Dezernat und dort gezielt in der Bekämpfung von organisierter und Rauschgiftkriminalität eingesetzt werden. Hierfür ist eine Sonderausbildung erforderlich, und diese Gelegenheit wäre für Sie genau die richtige, um zum Beispiel dem Zufluss einer der Hauptdrogen, dem Kokain, auf die Spur zu kommen. Jedenfalls hat mir Ihr Vorgesetzter in spe, KD Voss, durchaus sein Placet für ein solches Vorhaben angekündigt und würde Ihnen ebenso den hierzu benötigten Sonderurlaub genehmigen.
Zweitens: Ihre Reise- und Hotelkosten sowie ein Tagegeld von täglich fünfundzwanzig Euro würden teils aus dem Fortbildungstopf des LKA, teils durch einen Zuschuss des von Professor Traubes neu gegründeten Vereins No-to-Drugs e. V. gedeckt, der ebenso die Hälfte der Reisekosten meiner Tochter übernimmt. Ihre Dissertation soll dann als Grundlage für die zukünftigen PR-Aktivitäten des Vereins Verwendung finden. Selbstverständlich werden diese Erkenntnisse auch vom LKA für weitere Maßnahmen zur Drogenbekämpfung eingehend genutzt werden.
Drittens: Begründung für die Wahl Ihrer Person für dieses Vorhaben: Sie sind eine hervorragend ausgebildete Polizistin, beherrschen die erforderlichen Sprachen für diesen Sondereinsatz, besitzen zudem ein gutes Einfühlungsvermögen sowie den schwarzen Judogürtel des dritten Dan-Grades – also sind Sie besonders gut in der Selbstverteidigung ausgebildet. Dies wird wahrscheinlich besonders wichtig, weil Sie diesmal im Auslandseinsatz üblicherweise keine Waffen tragen dürfen.
Und letztendlich, viertens: Sie werden selbstverständlich in die gesamte Planung und Vorbereitung als leitende Ausführende mit einbezogen und erhalten seitens Interpol Unterstützung an sämtlichen Einsatzorten. Ich weiß, die Effektivität – und vor allem die ehrliche Staatstreue – der Polizeikräfte in den betroffenen Regionen in Lateinamerika dürfte vielleicht nicht ganz den Erwartungen entsprechen, die wir an solche Kollegen stellen, jedoch halte ich Sie für erfahren genug, um auf die richtigen Karten zu setzen. Ihre Großmutter und auch Ihre Mutter haben meines Wissen lange in Bolivien gelebt und werden Ihnen sicherlich viel Nützliches erzählen und berichten können, von dem sonst nirgendwo aus Fachbüchern zu erfahren ist.
So, und nun entlasse ich Sie, meine Damen, damit Sie sich noch ein wenig unterhalten und gegenseitig etwas besser kennenlernen können.“ Mit diesen Worten steht der Oberstaatsanwalt auf und begleitet seine Besucherinnen zur Tür. „Überlegen Sie bitte alles in Ruhe, sehr geehrte Frau Kriminaloberkommissarin. Es wäre sicherlich eine einmalige Gelegenheit für Sie, anlässlich einer spannenden, wenn auch nicht risikolosen Reise auch wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse für unsere hiesige Polizeiarbeit zu sammeln und mit nach Hause zu bringen. Bitte geben Sie Ihren Bescheid zunächst an Kriminaldirektor Voss, ob Sie überhaupt ins LKA kommen möchten. Und wegen Kitts Begleitung, na ja, darüber können wir später noch sprechen. In Ordnung?“
„Stellt euch vor, Abuelita und Ima“, berichtet Nili ihrer Oma und der Mutter auf Spanisch beim Abendessen, „was für ein spannendes Gespräch ich heute mit dem Oberstaatsanwalt in Kiel geführt habe!“ Sie berichtet fast wortgetreu von dem Treffen mit Harmsen und seiner Tochter Kathja. „Danach haben Kitt und ich uns beim Mittagessen und auch noch ein paar weitere Stunden ausführlich unterhalten. Sie ist eine sehr interessante und unheimlich gebildete junge Frau, eigentlich viel zu ernst für ihr Alter. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Nun, was meint ihr zunächst einmal zu meinem Bomben-Angebot für das LKA? Es klingt ja sehr verlockend, zumal die hiesige Polizeidienststelle in absehbarer Zeit verkleinert wird und ich wohl dann zur Kripo in Itzehoe wechseln müsste. Das Hin- und Herfahren wäre das geringste damit verbundene Übel. Allein schon der Gedanke, täglich den unausstehlichen Kriminaloberrat Heinrich Stöver erdulden zu müssen, bereitet mir Magenbeschwerden! ‚Oberkommissarin im Landeskriminalamt Schleswig-Holstein‘ klingt doch ganz anders als Kripo Steinburg in Itzehoe – ohne die Bedeutung und Leistung dieser Kollegen mindern zu wollen. Und obendrein winkt mir in Kiel auch eine baldige Beförderung zur Hauptkommissarin, die in der höher gelegenen Besoldungsgruppe 11 eingestuft ist. Diese Gehaltserhöhung ist auch nicht von der Hand zu weisen.“
„Müsstest du hierzu nicht nach Kiel umziehen?“, fragt Mutter Lissy mit besorgter Miene. „Wäre mir gar nicht so recht, aber ich befürchte, es würde so kommen!“
Nili fügt hinzu: „Da mein Einsatzgebiet sich dann auf ganz Schleswig-Holstein erstreckt, könnte ich vielleicht erreichen, dass ich normalerweise von hier aus – ein viel zentraler gelegener Standort als Kiel – operiere, wenn auch meine Dienststelle sich dort befindet. Ich würde mir vor Ort nur eine kleine Notübernachtungsstelle organisieren. Könnte vielleicht klappen, wenn mein zukünftiger Chef – dem ich allerdings noch nicht begegnet bin – zustimmt.“
Nilis Oma Clarissa bemerkt nach einer längeren Pause: „Nili, mein liebes Kind, das mit dem LKA finde ich prima, weil du endlich eine Aufstiegschance hättest, die du hier in Oldenmoor niemals bekommen würdest. Der zweite Teil deiner Erzählung gefällt mir dafür umso weniger!“
„Ach, Abuelita, darüber bin auch ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren, glaube mir!“
Lissy wirft ein: „Der gute Herr Staatsanwalt und seine Tochter ahnen ja nicht, in welch gefährliches Abenteuer sich das Mädchen da einlassen würde, und dann auch noch dich mit hineinzuziehen, ist im Grunde eine Zumutung!“
„Das glaube ich aber so nicht ganz, Ima“, antwortet Nili beherzt. „Die möglichen Risiken sind durchaus bekannt, aber auch ich halte sie für kalkulierbar, für beherrschbar – gründliche Konzeption und entsprechend vorsichtige Vorgehensweise vorausgesetzt. Sorgfältige Planung ist ja das Alpha und Omega jeglicher Polizeiarbeit, und dies wird voraussichtlich eine meiner