Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug. Gottfried Zurbrügg
Bild war beigelegt: Scherrer in seinem Arbeitszimmer. Ein sehr privates Bild, das noch nie veröffentlicht worden war. Sie drehte es um. „Für Sybille Walter“ stand dort in seiner schönen Handschrift.
„So nicht, Professor Scherrer, so nicht!“, sagte Sybille ärgerlich zu sich und setzte sich an ihren Schreibtisch. „Sie sind ein Zauberer und ein großer Mann, aber ich werde meinen eigenen Weg gehen!“
Zuerst wollte sie alles zerreißen, doch dann gab sie die Seiten über den Scanner in den Computer ein und arbeitete den ganzen Tag an Sätzen und Formulierungen. Am Abend überspielte sie das Ergebnis auf den Redaktionscomputer. Es mochte nun gut sein oder nicht. Das war alles, was sie konnte. Langsam gingen die Lichter an, als sie auf die Straße trat. Ziellos wanderte sie durch die Stadt und stand plötzlich vor dem alten Botanischen Institut.
Halt, Sybille, das darf dir nicht passieren! Sie fuhr wie aus einem Traum auf. Aber ich vermisse ihn, gestand sie sich.
„Das wird jetzt immer so sein“, sagte eine leise Stimme in ihr. „Der Preis war nicht die eine Nacht, der Preis war ein Stück von deinem Leben, das du nie vergessen wirst. Jetzt tut es weh, aber der Schmerz wird leiser, nur vergessen wirst du ihn nie.“
Sie wandte sich ab, bestieg die Bahn und fuhr zu ihrer Wohnung. Über ihre Wangen liefen Tränen. Scherrer stand oben am Fenster des Institutes und schaute in die Nacht. Er hatte darauf gewartet, dass sie kommen würde, vielleicht auch damit, dass sie ihm eine Szene machen würde. Vielleicht hatte er das sogar gehofft. So sah er, wie sie in die Bahn stieg und aus seinem Leben davonfuhr.
„Wir werden uns nicht wiedersehen, Sybille, und wenn doch, dann wird alles anders sein. Ich danke dir.“ Seine Worte prallten an den Fenstern ab. Sein Institut war seine Welt, aber auch sein Gefängnis. Hier wurde Großes gedacht und vollbracht, aber gegen Alter und Tod gab es noch kein Mittel, und er spürte, wie sehr er sich gerade danach sehnte. „Dafür würde ich jeden Preis zahlen“, flüsterte er in die Nacht. „Auch den Preis des Verzichtes auf das Leben, wie ich es bisher geführt habe, der Verzicht auf Liebe inbegriffen.“ Er fröstelte und trat vom Fenster zurück. Die Arbeit wartete.
9. KAPITEL
An der Wand hingen die Genkarten von Arabidopsis. Die bisherigen Ergebnisse der Forschung waren eingezeichnet. Im Lichtkegel des Mikroskops lagen einige grüne Arabidopsiszellen. Noch war ihnen nichts anzusehen. Anne befestigte die Videokamera auf dem Mikroskop und stellte sie genau ein. „Das wird kein spannender Film“, sagte sie zu Dr. Meyer, „aber ich möchte wissen, wie sich die Zellen ändern, wenn sie die Todesbotschaft bekommen.
„Im Schnelldurchlauf erkennen wir vielleicht etwas“, sagte Meyer. „Ich habe im Internet einen Hinweis auf Alterungsenzyme gefunden und sie besorgt. Es sollen Stoffe sein, die Zellen ganz unspezifisch altern lassen. Ob das die Botenstoffe sind, die den Tod der Pflanzen einleiten?“
„Ich werde einige Gewebeabschnitte damit behandeln und dann wissen wir mehr“, sagte Anne und bestrich Gewebeproben mit der neuen Flüssigkeit, kontrollierte noch einmal die gesamte Versuchsanordnung und ließ die Kamera anlaufen. „So muss es klappen. In drei Stunden wechseln wir die Kassette.“ Sie ging an ihren Arbeitsplatz zurück. „Die Beobachtung wird noch nicht ausreichen. Wir müssen wissen, was sich in der Zelle ändert“, sagte sie. „In zerkleinertem Zellgewebe müssten sich auch chemische Änderungen nachweisen lassen. Was meinen Sie, Dr. Meyer? Änderungen im pH-Wert oder in der Sauerstoffkonzentration? Das könnten Hinweise auf die chemischen Prozesse in der Zelle sein. Erst wenn wir das verstanden haben, können wir die vermuteten Gene suchen.“
Sie wartete Meyers Bestätigung nicht ab, sondern nahm von den vielen Arabidopsispflanzen, die auf der Fensterbank standen, gezielt Blätter, die bereits deutlich abstarben. Ein kleiner Mixer zerrieb die Pflanzen zu einem grünen Brei. Anne verteilte das Mus auf zwei kleine Kolben. In den einen hängte sie eine pH-Messanlage, in den zweiten eine Elektrode zur Sauerstoffmessung. Beide Geräte schaltete sie an ihren Computer.
„Wie weit sind Sie, Dr. Meyer?“, fragte sie, während sie auf dem Bildschirm die Funktion und die Speicherung überprüfte.
Meyer sah von seiner Arbeit auf. „Noch ist makroskopisch nichts zu sehen“, sagte er. „Ich bereite gerade Feinschnitte vor, in denen man vielleicht schon etwas erkennen kann.“
Mit dem Mikrotom schnitt er feine Streifen von Blättern und legte sie unter das Mikroskop. Die Blattzellen waren deutlich zu erkennen. In der Epidermis färbten sich einige Zellen braun. „Frau Neidhardt, kommen Sie doch bitte mal“, rief Meyer erfreut, „ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Die Epidermis verfärbt sich. In diese Bereiche ist das Enzym zuerst eingedrungen.“
„Moment“, sagte Anne, „hier bei mir tut sich auch etwas.“ Auf dem Computer begannen Zahlenreihen zu laufen. „Der pH-Wert der Lösung ändert sich rapide! Parallel dazu verändert sich auch der Sauerstoffgehalt der Probe.“ Staunend verfolgte Anne die Anzeige auf ihrem Bildschirm. „Ich dachte, die Sauerstoffkonzentration in den Zellen würde abnehmen und damit zu einem Erstickungstod führen“, sagte sie, „aber die Konzentration nimmt zu! Wie ist das zu erklären?“
Meyer verfolgte mit ihr die Zahlenreihen auf dem Bildschirm. „Erstaunlich“, sagte er. „Jetzt sinkt die Sauerstoffkonzentration, wie wir es erwartet haben, wieder ab!“
„Wir müssen das Experiment mehrfach wiederholen“, sagte Anne, „aus einem Versuch kann man noch keine Theorie ableiten. Wir wissen nicht, welche besonderen Versuchsbedingungen vorlagen.“
Aber es blieb dabei. Auch der fünfzigste Ansatz zeigte vergleichbare Werte. Die Sauerstoffkonzentration stieg beim Absterben in den Zellen rapide an und fiel erst nach einiger Zeit, wie sie es erwartet hatten. Anne versuchte, die Ergebnisse zu verstehen.
„Ich stelle die Daten mal als Kurve dar“, sagte sie. Auf dem Bildschirm erschien eine rote Linie in einem Koordinatensystem. In dieser Darstellung wurde der Verlauf deutlicher. Zuerst stieg der Sauerstoffgehalt plötzlich an, hielt sich eine Zeit auf hohem Niveau und erst dann sank der Sauerstoffgehalt wie erwartet rapide ab.
„Ich glaube, ich verstehe den Vorgang“, meinte Meyer nachdenklich. „So viel freier Sauerstoff muss in der Zelle alles zerstören. Das verträgt keine Zelle.“
„Wenn das so vorgesehen ist“, sagte Anne und stützte den Kopf auf beide Hände. „Was ist der Tod anders? Das geordnete Gefüge der Zelle wird zerstört und sie kann nicht mehr arbeiten. Leben verläuft in geordneten Vorgängen, Nicht-Leben bedeutet chemische Prozesse, wie sie überall in der Natur ablaufen. Sie ähneln den Lebensprozessen, laufen aber unkontrolliert ab.“
„Da haben wir wahrscheinlich schon des Rätsels Lösung“, sagte Meyer. „Die Änderung des pH-Wertes geht in gleiche Richtung. Die Zellflüssigkeit hat einen pH-Wert, bei dem die Enzyme ideal arbeiten können, aber er kann auch nur durch komplexe Vorgänge so gehalten werden. Um das zu erreichen, sind Steuerungen notwendig. So etwas leisten nicht einmal Pufferlösungen. Wenn das vermutete Todesgen nun eben diese Steuerung abschaltet?“
„Dann laufen normale chemische Prozesse ab. Die Abbauprodukte in der Zelle werden nicht mehr entfernt und sie zerstören die Zelle.“
„Wie in einer chemischen Fabrik, in welcher der Zentralcomputer ausfällt. Dann wird die Wärme nicht mehr abgeführt und die Abfallprodukte können nicht entsorgt werden. Eine solche Fabrik muss sich früher oder später selbst zerstören.“
„Damit haben wir eine Theorie aufgestellt“, sagte Anne. „Wir fanden bei früheren Versuchen heraus, dass die Katalase den freien Sauerstoff aufarbeitet. Die Änderung der Katalasekonzentration müsste auch nachweisbar sein.“
„Überprüfen wir das“, schlug Meyer vor.
Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Konzentration der Katalase fiel in der Lösung plötzlich stark ab, um kurze Zeit darauf wieder auf einen annähernd normalen Wert anzusteigen.
„Nun haben wir den Mechanismus verstanden, mit dem das Todesgen die Zelle zum Absterben bringt“, sagte Anne. „Wie ein Terrorist schaltet sie kurzzeitig die Katalaseproduktion